Was mich zum Nachdenken anregt.

Teil 1. Meine subjektive Sicht und was Kultur bedeutet.

Meine Einträge sind bisher alle aus einer sehr persönlichen Perspektive heraus geschrieben. Ich schrieb über das, was mir in meinem tagtäglichen Leben begegnet ist und mich natürlicherweise beschäftigt. Basic necessities, wie Schlafen, Zusammenleben und Essen. Es hat einen wichtigen Grund, warum ich bei diesen sehr subjektiven oder sehr persönlichen Themen geblieben bin. Sie sind einfach zu beschreiben. 

Man lebt in einer anderen Kultur und erlebt dabei. Das bedeutet, man sieht sich ständig in sozialen Situationen wieder, die anders ablaufen als Zuhause. Oder, um es wissenschaftlicher auszudrücken: man sieht sich mit sozialen Regeln und gesellschaftlichen Strukturen konfrontiert, die in Hong Kong anders sind als die erlernten Regeln und gewohnten Strukturen in Deutschland.

Was ist so faszinierend an menschlichen Kulturen? Warum habe ich damals nach meinem Auslandsjahr im Libanon angefangen Kulturwissenschaften zu studieren? Weil „Kultur“, in diesem auf menschliche Zivilisationen bezogenen Begriff, so überaus komplex und schwer zu verstehen und zu greifen ist. Weil wir erst im reflektierten Kulturaustausch bemerken, wie sehr wir unserer eigenen Prägung nicht entkommen können und dass die Welt trotz ihrer Verflechtung unterschiedlich funktionieren kann.

Ich hatte das damals schon gelernt. Als ich mit sechzehn Jahren zum ersten Mal im außereuropäischen Ausland war – in Indien – habe ich meine Faszination dafür entdeckt, wie unterschiedlich Gesellschaften funktionieren können und dass wir im Kern aber trotzdem alles Menschen sind. Das erscheint vielleicht banal, aber ich empfinde es doch immer wieder als wichtig, den letzten Punkt auch zu betonen. In unseren Unterschiedlichkeiten können wir doch immer wieder Gemeinsamkeiten finden.

Das macht es doch eigentlich spannend! Warum entwickeln wir unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen, wenn wir im Kern doch nur Menschen sind mit denselben Gefühlen, denselben Möglichkeiten, denselben (biologischen) Zielen. Und wie beginnen sie sich zu entwickeln?

Und warum ordnen wir uns ihnen unter?

Ich möchte nach wie vor bei meiner subjektiven Weise bleiben. Da ich glaube, dass so die verzehrte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch meinen fremden Blick wenigstens klar ausgedrückt wird. Zudem meine ich nicht, in der kurzen Zeit, die ich hier bin, die Hong Kong Culture so gut kennen lernen zu können, dass ich valide Aussage über sie treffen könnte. Das widerspricht zutiefst meinem Verständnis von der Komplexität von Kultur.

Ich möchte hierbei auch noch betonen, dass ich nicht davon ausgehe, dass es die eine, feste, starre Kultur gibt. Das ist Teil der Paradoxie. Letztendlich unterscheiden sich Menschen oft durch Einstellungen und Handlungsweisen, obwohl man sie trotzdem einem bestimmten „Kulturkreis“ zu ordnen kann. Denn in der Erfahrung des Fremdseins und Nichtverstehens im Ausland sieht man Unterschiede. Man kann sie also nicht wegreden. Man kann von kulturellen Deutungsmustern sprechen. Je mehr kulturelle Deutungsmuster wir uns teilen, desto eher gehören wir zu einem Kulturraum. Die Grenzen sind so fließender und offener.

Hong Kong wirkte auf viele meiner ersten, zweiten und dritten Blicke nicht stark anders, als das Leben in einer der anderen Großstädte, die ich kenne. Natürlich ist Hong Kong anders, als viele Dinge, die ich kenne. Nur, allein, dass es Dinge gibt, die anders sind, war für mich nicht bemerkenswert, sondern eher schon Gewohnheit. Hong Kong wirkte auf mich nicht aufdringlich anders, wie andere Städte vielleicht hätten auf mich wirken können.

Erst nach und nach entwickeln sich für mich gesellschaftliche Dimensionen, die aufgedeckt und erkundet werden wollen. Es ist als würde Hong Kong in seiner Zweisprachigkeit und seiner Position zwischen Kulturen – zumindest habe ich Hong Kong diese Position aufgrund der geschichtlichen Konstellationen im Vorfeld zugewiesen – es einfach machen, in gewohnten Mustern zu bleiben.

Das liegt bestimmt darin, dass Hong Kong effizient ist. In scheinbar jeder Hinsicht. Als Beispiel soll hier nur kurz das Verkehrssystem genannt werden.

Es ist interessant, dass manche Themen immer wieder bei sich selber, aber auch bei anderen Menschen auftauchen (in Bezug auf kulturelle Unterschiede, die entdeckt werden). Das sind die Themen, die so anders sind, dass sie Denkvolumen einfordern. Man spürt ein Verlangen sich damit auseinandersetzten. Das tut man, aber es bleibt trotzdem schwer darüber zu berichten. Es ist schwierig die Balance zu finden, vorschnelle Urteile zu vermeiden und überhaupt das Gefühl zu haben, alles verstanden zu haben. Was bedeutet überhaupt „alles“? Kultur ist nicht klar zu definieren und trotzdem gibt es etwas Verbindendes zwischen Menschen eines Kulturaums, das man nicht von der Hand weisen kann. Die sozialen Auswirkungen können enorm sein.

Teil 2. Implikationen im nur-kurz-Dasein.

Ich versuche viel mit Menschen von hier über Politik zu reden. Einfach weil mich ihre Sichtweise interessiert. In einem dieser Gespräche ist mir klar geworden: Es ist so einfach für mich über diese Themen zu reden. Über Hong Kong Identity, über die Einflussnahme der chinesischen Zentralregierung auf lokale Angelegenheiten und Pressefreiheit, über Konnotationen von Demokratie und die Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit des Einzelnen. Es ist so einfach für mich. Ich bin nämlich bald wieder weg. In Deutschland werden mich diese Hong Kong – spezifischen Themen in meinem Leben nicht berühren. Zumindest nicht in meiner materiellen Wirklichkeit. Leben in Deutschland ist im Moment eine sichere Angelegenheit. Ich kann einfach wieder darin zurückkehren. Hong Kong People aber müssen – und wollen das natürlich auch, zumindest zum Teil – in Hong Kong bleiben und ihren Weg hier finden.

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Teil 3. Soziale Wirklichkeit. Suizide in Hong Kong.

Diese Woche ist in einer meiner liebsten Seminare etwas passiert, was mich sehr betroffen gemacht hat. Es ist das Seminar, in dem ich meine Kommilitonen am besten kenne. Das liegt an unserer Dozentin, die viele interaktive Aufgaben für uns hat. Da wir Public Opinion Survey und Attitude Questions als Themen haben, konnte ich so bisher viele Einblicke in die Meinungshorizonte meiner Kommilitonen erhalten. Wir lachen in dieser Klasse viel zusammen.

Diese Woche hatte eine Arbeitsgruppe ihr Thema vorgestellt: Suizide und Suizidgedanken unter Hong Kong Studierenden. So lernte ich, dass Suizide unter jungen Menschen hier ein echtes gesellschaftliches Problem sind. Unter „junge Menschen“ fallen nicht nur Studierende, sondern auch schon Schüler, zum Beispiel im Alter von 12 Jahren. Zu Beginn dieses Jahres haben sich innerhalb von fünf Tagen vier Studierende umgebracht. Die hohen Gebäude in Hong Kong sind – zynisch gesagt – Möglichkeiten, um die eigenen Überlebenschancen gering zu halten. Die Hilfeschreie werden erst im Nachhinein gehört.

Die Arbeitsgruppe hat unterschiedliche Thematiken ausgearbeitet, die ihrer Meinung nach Faktoren oder Gründe für die hohe Verzweiflung unter jungen Studierenden in Hong Kong sein können. Ein großer Faktor dabei waren fehlende soziale Kontakte und fehlender Halt sowie starke Zukunftsängste. Oft arbeiten beide Eltern hart, eine 50 Stunden Woche für beide Eltern ist nicht ungewöhnlich in Hong Kong. Die Heranwachsenden selbst arbeiten genau so hart an sich und an ihrem Wissen. Hong Kong Studierende haben Angst, dass sie sich essentielle Lebensnotwendigkeiten nicht werden leisten können, wie etwa ein Dach über den Kopf zu haben. In diesem Moment wurde mir erst vollends bewusst, wie stark das Wohnungsproblem in Hong Kong wirklich ist. Ich würde behaupten, Jugendliche in Deutschland haben auch Zukunftsängste – aber wenige denken wahrscheinlich daran, ob sie sich später eine Wohnung leisten können oder nicht.

Gegen Ende des Seminars führte die Arbeitsgruppe eine anonyme Umfrage in unserem Klassenraum durch, mit einer Technik, die wir eigens für sensible Fragen erlernt hatten. Die Frage war: „Hattest du schon einmal Suizidgedanken im Laufe deines Lebens?“

Das Ergebnis der Umfrage war, dass 40% meiner Kommilitonen schon einmal Suizidgedanken hatte.

Ich war geschockt. Ich bin es nach wie vor. Ich finde diese Zahl unheimlich hoch.

Ich war die Einzige, die überrascht reagiert hat. Um mich herum – ich bin die Einzige im Seminar, die nicht aus Hong Kong kommt – war der Tenor klar: das ist Normalität. Niemand hatte das Bedürfnis über diese Zahl zu reden, es war erwartet worden.

Ich machte mir klar: das bedeutet, dass fast jeder Zweite hier in dem Raum, in dem ich mich zweimal in der Woche befinde, sich schon einmal schreckliche Gedanken ausgemalt hatte.

Meine Dozentin ließ Informationen zur psychologischen Beratungsstelle der Universität herum geben. Dann war das Seminar zu Ende. Ich ging zu meiner Professorin, um sie auf das Ergebnis anzusprechen: „Yes, there is much pressure on them.“ Ich bin zur Gruppe gegangen, die das Thema ausgesucht hatte: „For us, it is normal.“

Es sollte nicht normal sein! Dieses intuitive Gefühl hat jeder, ich bin mir sicher. Die South China Morning Post hat einen Artikel zu einer neuen Studie veröffentlicht. Die Zahlen sagen: 27% der Befragten hatten Gedanken über Selbstverletzung oder Selbstmord-Gedanken. Über 60% hatten Schlafstörungen, 62% kannten das Gefühl ohne Grund traurig zu sein und / oder weinen zu müssen. Wie wird darüber geredet? Was kann dagegen unternommen werden? Wie kann man Menschen aus dieser Verzweiflung befreien?

Ich möchte nicht darüber diskutieren, wie valide diese Daten sind oder wie breit „Suizidgedanken“ ausgelegt werden könnten. Bei so einer erschreckenden Zahl muss meiner Meinung nach nicht darüber geredet werden, wie wahr die Umfrageteilnehmer geantwortet haben. Man muss diese Zahlen einfach ernst nehmen.

Als Soziologin muss ich sofort an Émile Durkheim denken. Was hält diese Gesellschaft zusammen? Und weiter: Wie kann diese Gesellschaft reagieren, um die Lebensperspektive dieser jungen Menschen zu verbessern?

Ich kann nicht anders, seit ich in diesem Klassenzimmer war, laufe ich über unseren Campus mit diesem Wissen im Kopf und überlege mir, welche bedrückenden Gedanken in den Köpfen der mich umgebenden Menschen möglicherweise vorgehen. Ich kann diese Emotionen zu lassen oder sie zusammen mit so vielen anderen Emotionen von mir weisen und wie gewohnt weiter machen.

3 thoughts on “Was mich zum Nachdenken anregt.

  1. Liebste Henni! Danke für den Artikel, der mich auch zum Nachdenken anregt und ich denke, dass ich auch immer wieder drüber lesen werde und noch neue Gedanken finden werde. Ich finde es wirklich sehr bewunderswert, wie du deine Gedanken in Worte fassen konntest! Ich glaube, dass hier auch viel drin steckt, worum es doch in unserem Studium und schließlich in unserem Auslandsaufenthalt geht! Ich freue mich also umso mehr, bald wieder mit dir über all diese Dinge reden zu können!
    Und ich bin auch schockiert über die Zahlen – hast du auch mal mit Silvi darüber gesprochen? In Shanghai scheint es ja ein ähnliches Problem zu geben! Und wenn ich mit Jin über ihre Schulzeit gesprochen habe, da ging es auch immer nur ums Lernen und den hohen Druck, dem sie in China ausgesetzt war: erst durch das Studium in Frankreich konnte sie entdecken, dass es noch andere Bildungsmodelle gibt.

  2. Ich möchte nicht verkürzt antworten aber es wird schwierig angemessen und kurz zu antworten. Missverständnise sind also nicht zu vermeiden. Entschuldigung – im Vorfeld.

    Deine Einleitung finde ich sehr interessant. Unsere Normailitätsvorstellungen/Dentraditionen/Habitus etc. sind sehr hartnäckig und es ist sehr schwer das uns-nicht-normale nicht abzuwerten obwohl wir es als verstörend empfinden (…außer wir empfinden es als besser…). Deshalb sind deine Altagsbeschreibungen echt passend. Die Thematik “das Privileg gehen zu können”, das beschäftigt mich immer, wenn ich in den Libanon reise. Was wäre, wenn ich hier leben würde? Wie würde ich dann denken und handeln? Kann ich das überhaupt nachempfinden? Könnte ich dann immernoch so objektiv-oder konstruktiv über z.B. die Zweistaatenlösung des Nachbarstaates reden? Wenn ich direkt betroffen wäre? Wenn es mich in meinem Alltag prägen würde? Die Frage bleibt nicht beantwortbar.

    Die Suizide sind echt sehr belastend und wie so oft, stelle ich mir die Frage: Wie können wir unseren Alltag leben und gleichzeitig mit so viel Leid konfrontiert werden? Uns beschweren obwohl wir wissen, es könnte anders sein? Unsere eigene Ohnmacht begreifen? Wir sind in so vielen Momenten ohne Handlungsmöglichkeit mit schlechten Nachrichten konfrontiert. Ich glaube, irgendwann habe ich einen Verdrängungsmechanismus entwickelt. Gleichzeitig darf man seinen Optimismus nicht verlieren, um lokal veränderbares zu sehen. In meinem Umkreis kann ich mich tatsächlich bemühen meinen Mitmenschen etwas Positives zu hinterlassen. Aber dann finde ich bei meinen alltäglichen Verplfichtungen (die ich ja alle nur habe weil ich bereits priviligiert bin) wieder die Zeit nicht. Das ist total egoistisch von mir und doch meine Realität. Denn schließlich werde ich bei wöchentlichen Hochrechnung meistens etwas mehr für mich gemacht haben als für meine Mitmenschen. Oder vielleicht doch nicht? Ich weiß es nicht.

    1. Danke für deine lange Antwort. “Realisten” würden wahrscheinlich sagen, es ist total normal, dass wir nach uns alleine, also nach uns als Individuum, zu erst schauen (und schlechte Nachrichten verdrängen). Schließlich strebt jede einzelne Zelle in unserem Körper nach Überleben und Reproduktion. So viel sagt zumindest die Evolutionsbiologie. Ich finde es einfach nur unheimlich beruhigend zu wissen, dass es solche Menschen wie dich gibt, Amani, denen ihre Mitmenschen und auch die Menschen außerhalb des direkten Umfeldes nicht egal sind und die in der Lage sind starke Empathie zu empfinden. Danke dir dafür.

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