4. Other Political Beliefs

Viele Menschen, die ich in der Bay getroffen habe, sind unzufrieden mit der Politik, auf lokaler Ebene ebenso wie landesweit. Das zeigt sich auch in Umfragen. Z.B.  waren 2021 nur 24 % der US-Amerikaner*innen der Meinung, dass sie in ihre Regierung vertrauen können [1]. Dieses Mistrauen herrscht folglich bei Republikaner*innen wie Demokrat*innen, es existiert links wie rechts. Besonders von links hat mich die Vehemenz der Systemkritik überrascht. Über diese möchte ich hier schreiben, auch weil ich persönlich mit rechter Systemkritik keine direkten Berührungspunkte hatte. Ich selbst verstehe mich als links und kapitalismuskritisch, dennoch bin ich auch Demokrat und habe ein gewisses Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Gerade viele junge, linke Menschen in den USA, mit denen ich diskutiert und studiert habe, teilen dieses Vertrauen scheinbar gar nicht. Also nicht nur ein bisschen weniger Vertrauen, vielmehr wirkte es auf mich oft so, als hätten viele Menschen hier das politische System und seine Vertreter*innen schon seit Längerem komplett aufgegeben. Die jungen Linken in der Bay sind keine Democrats, sondern wählen diese mit einer Pest-oder-Cholera-Attitüde. Sie sind keine liberlas sie haben other political beliefs.  In unzähligen Gesprächen lernte ich das besser zu verstehen.

Man kann sich über vieles in den USA aufregen. Es gibt schwerwiegende soziale Probleme, große infrastrukturelle Herausforderungen und eine sich stetig verschlimmernde Umweltkrise. Menschen ärgern sich über die alltäglichen, ich nenne sie mal „symptomatischen“ Probleme: Viele Straßen sind in schlechtem Zustand (ungelogen unterarmtiefe Schlaglöcher), es herrscht Verkehrschaos (wo wir Smalltalk über das Wetter betreiben, wird in der Bay über den Verkehr gesprochen, denn das Wetter ist meist gut, der Verkehr aber unberechenbar und aufwühlend; Menschen die mehrere Stunden täglich pendeln sind normal ), die Schullandschaft ist durch extreme Niveauunterschiede geprägt und ein großer Teil der schlimmen Waldbrände wird durch marode Oberleitungen des Energieunternehmens PG&E verursacht. Dahinter liegen die großen systemischen Probleme: Das Land ist geprägt von massivem strukturellem Rassismus, der sich in Polzeigewalt, ungleichen Eigentumsverhältnissen, einem Bias im Justizsystem, Alltagsdiskriminierungen, uvm. offenbart. In einer sehr freien Marktwirtschaft klafft die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinander, die Leute müssen grinden, Suchtkrankheit und Obdachlosigkeit grassieren. Zudem ist das Land zunehmend schwer getroffen von Klimawandel und Umweltkrise.

Auf der anderen Seite scheint die Politik und die Regierung diesen Problemen nicht viel entgegensetzen zu können, vielmehr scheint sie an wirklichen Lösungen wenig Interesse zu haben. Eher versuchen sich Republicans und Democrats mit unlauteren Methoden wie dem Gerrymandering die Stimmen abzuluchsen. Machterhalt, der zentrale Antrieb der Politiker*innen. So oder so ähnlich ist das Politikbild vieler enttäuschter Bay Area Bewohner*innen, denen ich in meinen sechs Monaten begegnet bin. Ich möchte hier über diese Wahrnehmung schreiben, weil sie mir nicht selten begegnet ist und ich von ihrem Zynismus und ihrer Vehemenz überrumpelt und schockiert war.

Die angesprochenen Probleme der USA waren mir vorher bereits mehr oder weniger bekannt. Allerdings folgte und folge ich immer noch dem europäischen Mediennarrativ von den USA, als eine „ausgehöhlte Demokratie“, geschädigt durch ein überaltertes Wahlsystem, fake news und Donald Trump. Neu und schockierend war für mich die Auffassung, dass die US-amerikanische Demokratie nicht ausgehöhlt, sondern gescheitert sei, bzw. nie richtig funktioniert hätte. Diese hätte nämlich von Anbeginn immer nur dem Profit und Machterhalt einer ausbeuterischen weißen Kolonialherrschaft gedient. Ich habe einige Menschen getroffen, die sich noch heute als Colonizers verstehen, insofern sie von weißen europäischen Einwanderern abstammen. Und all das trifft ja zu. Die weißen Siedler*innen haben die indigene Bevölkerung Amerikas grausam unterworfen, enteignet und getötet, sie haben Afrikanische Menschen versklavt, verschleppt und getötet. Die Verfassung und Demokratie der USA ar immer auch mit dieser Unterdrückungsgeschichte verknüpft. Die Grausamkeiten dieser Geschichte werden uns heute glücklicherweise immer klarer. Dennoch dauern Ungleichheiten und Unterdrückungen in den USA (wie im Rest der Welt) bis heute an. Das zeigen uns die Post Colonial Studies, BLM oder auch der Alltag in der Bay (die in den USA als besonders progressiv gilt): Die wohlhabenden Wohnviertel sind weiß, die Freeways führen durch die ärmeren Nachbarschaften der BPoC, in der Gastronomie, auf dem Bau und als Putzkräfte arbeiten vor allem Mexikaner*innen oder Asian-Americans. Die Ungleichheit ist allgegenwärtig und normalisiert. Die Beispiele an Korruption und Machtgier in der US-amerikanischen Politik sind zahllos und erschreckend, die Skandale und Verwicklungen der Geheimdienste gruselig.

Doch sind das nicht vor allem die regressiven Tendenzen der Republicans? Haben wir es nicht mit einem gespaltenen Land zu tun, in dem pipapo die eine Hälfte rückschrittlich und die andere Hälfte eben “die Bessere“ ist? Diese Auffassung teilen längst nicht alle, mit denen ich in der Bay gesprochen habe. Vielmehr sei der größte Unterschied, dass die Democrats noch so tun würden, als wäre ihnen daran gelegen gesellschaftliche Probleme zu lösen, während die Republicans, quasi ehrlicher, nicht einmal die offensichtlichen Probleme anerkennen würden und ganz offen ihre selbstsüchtige Agenda vor sich hertrügen. So versteigerte die Biden Administration im November 2021 riesige Öl-Förderpakete im Golf von Mexiko, nachdem sie zuvor auf der Klimakonferenz in Glasgow versprochen hatte, mit gutem Beispiel in Sachen Klimapolitik voranzugehen [1]. Oder es kommen Investigationen über Ölkonzerne zutage, die mit ihrer Lobbyarbeit mit unglaublicher Dreistigkeit die Politik zu beeinflussen versuchen [2]. Für viele zeigen solche Beispiele, von denen es einige gibt, dass der politische Apparat der USA schlicht kaputt ist. Democrats oder Republicans, Jacke wie Hose.

Für mich bleibt diese grundsätzliche Ablehnung der US-amerikanischen Politik, Justiz und Wirtschaft befremdlich, oftmals wirkt sie konspirativ. Es ist aber nicht so leicht diese Positionen einfach als Cherrypicking und Konstruktion abzutun. Demokratie-Zyniker haben in den USA quasi eine ganze Kirschbowle, um ihre systemkritische Haltung zu unterlegen. Argumentativ muss sich hier wappnen, wer noch an die US-amerikanische Demokratie glaubt. Mich haben diese Diskussionen oft traurig und hoffnungslos gemacht, war und bin ich doch der Überzeugung, dass die US-amerikanische Politik differenzierter ist, als hier teilweise angenommen. Ich glaube, dass es einen Unterschied macht, ob Trump oder Biden Präsident ist, und zwar nicht nur einen kleinen. Es mach einen Unterschied für Migrant*innen, welche Einwanderungspolitik z.B. an der mexikanischen Grenz gefahren wird oder welches Verhalten die USA außenpolitisch an den Tag legt. Denke ich gerade an den Krieg in der Ukraine, bin ich erleichtert, nicht mehr Donald Trump mit von der Partie zu wissen. Mit dieser Meinung bin ich in den USA natürlich nicht allein. Wie groß die Gruppe der System-Zyniker in der Bay wirklich ist, lässt sich nicht sagen, aber es ist eine Attitüde, die definitiv vorhanden und mir öfters begegnet ist. Neben einfacher Politikverdrossenheit identifizieren sich auch mehr Menschen abseits des klassisch demokratischen Spektrums. So z.B. meine Mitbewohner*innen, die sich als Marxist*innen oder Anarchist*innen verstehen. Sprich, alles Staatliche von heute scheint per se erstmal schlecht. Auch in den Seminaren an der Uni fällt regelmäßig und selbstverständlicher als in Deutschland die „me as a marxist“- Einleitung. Wie sehr ich auch das US-amerikanische Wahlsystem zum Haarerraufen finde, so wenig konnte ich mit den antiquierten Pauschalantworten der hier geäußerten marxistischen Kritik etwas anfangen. Das letzte, was ich und die meisten US-Amerikaner*innen wohl erleben wollen, ist eine Revolution in einem Land, in dem sich schon jetzt Menschen unterschiedlichster politische Überzeugungen, teilweise bis an die Zähne bewaffnet, gegenüberstehen.

An der Uni sind mir allerdings auch sehr wertvolle und differenzierte marxistische Sichtweisen begegnet. Dennoch bedrückte es mich in erster Linie, diese Systemverdrossenheit mitzuerleben. Das machte sich merkbar im Lebensgefühl und im Alltag. In meiner WG herrschte z.B. eine „We don´t call the cops“-policy. Das heißt, dass meine Mitbewohner*innen selbst im Notfall nicht die Polizei rufen. Dahinter steht die Annahme, dass die Polizei Notfallsituation eher gefährlicher macht als sie zu entschärfen. Hierfür gibt es genügend Beispiele (z.B. [3]). Und meine WG ist keine WG, die sich in irgendwelchen illegalen Tätigkeiten oder militanten politischen Aktionen organisiert hätte. Nein, es wurde vielmehr penibel darauf geachtet, keinerlei Gesetze zu brechen. Das Motiv, sich gegen den Polizeiruf zu entscheiden, ist die Solidarität mit der großen black community in unserer Nachbarschaft, die in den USA besonders durch Polizeigewalt betroffen ist. Es ist kein Zufall, dass sich in Oakland, der Stadt, in der unsere WG liegt, die Black Panters gegründet haben. Eine Stadt, die auf eine lange Geschichte von Polizeigewalt gegen ihre Schwarze Bevölkerung blickt.

Werbung des Anti-Police Terror Project.

Meine Hausgemeinschaft ist eine Gruppe normaler Berufstätiger, die ich alle sehr ins Herz geschlossen habe. Menschen mit politischen Überzeugungen, die sie in Küchentischdiskussionen, Demos, ehrenamtlichen Hilfsaktionen für Obdachlose und ja, auch an der Wahlurne ausleben. Hausgemeinschaften wie diese gibt es gerade in der Bay sehr viele. Das Gefühl, den Behörden nicht trauen zu können, geht in diesen Gemeinschaften oft damit einher, sich selbst zu organisieren. Heute gibt es hier Kampagnen, die die Streichungen der Polizeifinanzierung fordern oder alternative Notfallnummern anbieten. Je mehr ich mich mit der Geschichte Oaklands und unserer Nachbarschaft beschäftigte, desto verständlicher wurde mir dieses Misstrauen gegenüber Polizei und Staat. Dennoch blieben die Pauschalisierung und die krasse Ablehnung für mich ungewohnt und unangenehm. Zu glauben, dass die Polizei ausschließlich unkompetent, gewalttätig und nicht an Deeskalation orientiert sei, das konnte mich nicht überzeugen. Dass die Polizei auch oder gerade von strukturellem Rassismus durchzogen ist, glaube ich dagegen sofort. Auch plausibel schien mir als Erklärung für all die Gewalt, dass die Polizei selbst falsch getrimmt und ausgebildet sei. Demzufolge ist ein Einsatz in einem Land mit so losen Waffengesetzen ist für eine*n officer immer ein Gefahrenpotential, dem die Polizei wiederum mit Gewalt und Paranoia begegnen würde. Die Polizei mache deshalb ihren Job in einer Art Kriegszustand, in dem in jedem Auto, hinter jeder Ecke ein*e bewaffnete Gefährder*in lauere. Mit dieser Attitüde komme es logischerweise zu mehr Gewalt.

Ich bin dementsprechend froh, dass mein Auslandssemester friedlich verlief und all diese Überlegungen über die Polizei und Notfallsituationen hypothetisch blieben, aber bedrückend war es trotzdem. Und das ist wahrscheinlich der springende Punkt, auf den ich hier hinaus möchte: Es ist unangenehm und verunsichernd, wenn das eigene Umfeld, die eigene Nachbarschaft, so wenig in die Demokratie, den Staat und die Polizei vertraut. Noch unangenehmer erscheint es mir jedoch, selbst an dieser Stelle zu stehen und nicht mehr in das eigene gesellschaftliche System zu vertrauen. Ich zumindest war hier nur verunsichert und zu Besuch. In Deutschland habe ich allerdings das Glück zu glauben, dass meine Stimme in einer Wahl zählt und das ich (bei aller Kritik) im Notfall gefahrenlos die Polizei rufen kann. Das Leben ohne dieses Vertrauen ist düsterer und von mehr Angst bestimmt. Dieses Verständnis hatte für mich nichts mehr mit gesunder Skepsis gegenüber dem Staat und seinen Organen zu tun. Dieser wird hier vielmehr zum Feindbild.

Die große Frage, ob diese radikale Skepsis gerechtfertigt ist oder nicht, maße ich mir nicht an zu beantworten. Fest steht, dass ein politisches System, das so viel Vertrauen verloren hat, keinen guten Job macht. Wer also für ein Vertrauen in den US-amerikanischen Staates und seine Polizei argumentiert oder diesen ein Verbesserungspotential zuschreibt, muss sich auch hier wieder mit guten Argumenten wappnen, denn deren Bilanz erscheint vielen US-Amerikaner*innen alles andere als freundschaftlich, hilfreich oder hoffnungsvoll. Ich sehe an dieser Stelle auch, dass das Unwohlsein meinerseits schwer privilegiert war, insofern ich nicht von Racial Profiling betroffen bin, es eher unwahrscheinlich war, dass ich Opfer von Polizeigewalt geworden wäre und ich dieses Land nach einem halben Jahr auch wieder verlassen habe.

Neben der Erleichterung wieder in einem gefühlt sichereren institutionellen System angekommen zu sein habe ich aber auch eine neue kritische Sicht auf unseren Staat und dessen Institutionen aus den USA mitgenommen. Ich glaube inzwischen mehr den je, dass es wichtig ist, diesen auf die Finger zu gucken und ihnen gegenüber skeptisch zu sein, damit sich diese nicht in eine Richtung entwickeln, in der die Menschen den Glauben und das Vertrauen in die Demokratie verlieren.

Die Mission in Santa Barbara. Zeugnis der Kolonialisierung Kaliforniens.
Blue Lives Matter Flagge in Arizona. Auch die Rechten sind enttäuscht von der Politik.

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