2. Der Grind

Während des Semesters hatte mich die Uni voll im Griff, da gab es immer etwas zu lesen, vorzubereiten oder zu schreiben. Die Seminare dauern länger (3h) und es fallen mehr Abgaben an als in Deutschland. Ich verbrachte dementsprechend viel Zeit in der Library des German Departments mit einer kleinen, schnell vertrauten Gruppe an Bib-Buddies. Überraschend für mich war, dass im US-amerikanischen Hochschulsystem sehr wenige Menschen einen Masterabschluss anstreben, sondern lieber sogenannte Graduate Programms absolvieren, die nach dem Bachelor direkt auf einen PhD-Abschluss abzielen. An der UC Berkley dauert so ein Programm ca. 5-6 Jahre, der Masterabschluss wird quasi auf dem Weg eingesammelt, am Ende steht ein großes Promotionsprojekt. Vorteil solcher Programme ist es, dass die Teilnehmer*innen, die Graduate Students, keine Studiengebühren zahlen, dafür aber selbst als GSI (Graduate Student Instructor) in Teilzeit am Department arbeiten. In meinen Master/ Graduate-Seminaren waren dementsprechend, bis auf uns Deutsche Austauschstudierende nur PhD-Studierende. Entweder es lag am guten Ruf der UC Berkeley, daran dass alle in einem Promotionsprojekt steckten oder es ist die US-amerikanische Uni-Kultur im Allgemeinen. So oder so fiel mir auf, dass alle mit sehr viel Elan dabei waren. Zwar ist die Arbeitsatmosphäre am Department stets locker und freundlich – oft versüßt mit Cookies und viel Kaffee – aber die Leute arbeiten viel, gefühlt mehr als in den deutschen geisteswissenschaftlichen Studiengängen, die ich bisher besucht habe. Ganz selbstverständlich steckt man nebenbei noch in dieser Redaktion, jenem Projekt oder feilt fleißig an einer neuen Veröffentlichung. Diese spezielle, produktive Atmosphäre in den Seminaren und an der Uni allgemein war für mich inspirierend. Außerhalb der Uni lernte ich diese US-amerikanische Geschäftigkeit von ihrer Besorgnis erregenden Seite als sogenannten Grind kennen. Die Merriam-Webster Encyclopädie definiert den Grind als „one who works or studies excessively“ oder auch „dreary, monotonous, or difficult labor, study, or routine“ [1].  Sprachlich stammt der Grind vom altenglischen Grindan (“to rub together, crush into powder, grate, scrape”). Grindan ist auch verwandt mit dem uns bekannten Ground/Grund [2]. Man kann das Grinden also als fortlaufenden Arbeitsprozess verstehen, in dem etwas  zerrieben, plattgemacht oder aus dem Weg geräumt wird. Ob dieses Etwas die zu bewältigende Arbeit ist oder der/die Arbeiter*in, scheint Ansichtssache zu sein. Linguee, lässt hier wenig Zweifel und übersetzt den Grind als „Schinderei“. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das ganz zutrifft, da der Grind in gewissen Kontexten auch etwas lobenswertes, ehrvolles, fast wünschenswertes hat. Meist ist der Grind finanzieller Natur: es geht um Geld verdienen, paying the bills, Lohnarbeit, getting this bread, Kreativarbeit, die wissenschaftliche Laufbahn…

Mir ist dieses Konzept in der Sprache, der Musik und nicht zuletzt im Lifestyle mancher Bekannter aufgefallen. Dabei ist der Grind sicherlich nichts US-spezifisches, auch Deutschland grindet. Aber in den USA ist dieses Lebensgefühl eben doch noch präsenter, sodass sich dieses Konzept im alltäglichen und kulturellen Wortschatz der USA eingenistet hat. Denn die Arbeitsatmosphäre hier ist kompetitiver und rauer als in Deutschland. Hire and fire, work hard play hard,… Unabhängig, ob im Niedriglohnsektor oder gutbezahlt: Hart zu arbeiten ist eine US-amerikanische Notwendigkeit und ein Ethos. Hervorgebracht wird diese Notwendigkeit durch einen geringen Arbeitnehmer*innenschutz (keine gesetzlichen Urlaubstage, keine gesetzliche Krankenversicherung,…), immense Lebenshaltungs-kosten und eine große soziale Fallhöhe (siehe Blogpost zur Obdachlosigkeit).

Über mein Entsetzen, dass sie in ihren Jobs eine definierte Anzahl an Krankheitstagen haben und mit zehn bezahlten Urlaubstagen auskommen müssen, konnten meine Mitbewohner*innen nur müde lächeln. Wenn man also länger freinehmen will oder krankheitsbedingt zu lange ausfällt (ich rede hier von ein paar Tagen pro Jahr, nicht etwa Wochen), dann wird man einfach nicht bezahlt. Man muss unpaid time off nehmen. In einem Land, in dem 2019 im Schnitt jeder Privathaushalt 115.000 Dollar Schulden hatte  [3]  und gerade während Corona Millionen ihre Miete nicht mehr zahlen können  [4], sind unbezahlte Urlaubstage natürlich eher unbeliebt. Aber selbst Menschen, die es sich theoretisch leisten könnten, viel frei zu nehmen, machen das ungerne, weil dies z.B. in den Tech-Unternehmen nicht so gut ankomme, wie mir eine Bekannte aus dieser Branche erzählte. Man arbeitet einfach viel und hat wenig frei. On the Grind. Manche finden das gut, manche schlecht, aber für alle ist irgendwie Normalität.

Graffiti in Oakland: “Rise and Grind” in Farben des Baseballteams Oakland Athletics.

Vor allem im Hip Hop wird der Grind als Lebensstil und Notwendigkeit (inzwischen auch außerhalb der USA) zelebriert (z.B. Nipsey Hussle, Ufo361). Eine empfehlenswerte komödiantische Kritik des Grind liefert dagegen Pardis Parker. Gerade von einer antisystemischen Linken wird der Grind als krankhafte Kultur in einem kaputten System aufgefasst. Dazu mehr im nächsten Post.

Welche negativen Auswirkungen der Grind auf die Gesundheit und die Lebensqualität hat, kann sich jede*r selbst ausmalen. Mit 27, so alt wie ich bin, wird in den USA in der Regel nicht mehr studiert, es wird gearbeitet oder eben promoviert. Ich habe auch einige gleichaltrige Menschen getroffen, die sich bereits wegen Stress oder Burnout im Berufsleben umorientiert haben.

 

Hier wird gegrindet: die Doe Library der UC Berkeley.
Ebenso hier: Bürogebäude und Banken der Skyline San Francisco.

Natürlich trifft dies nicht auf alle Menschen in den USA zu. Es gibt auch genügend, die, ohne sich zu überarbeiten einer Beschäftigung nachgehen oder einfach genügend Geld haben, um gerade nicht zu arbeiten. Das extreme Gegenteil vom Grind wäre in diesem Sinn wohl funemployed, also arbeitslos/unemployed zu sein und dabei Spaß zu haben. Wobei dieser Lebensentwurf selten und privilegiert ist. Auch privilegiert kam ich mir in diesen Gesprächen vor: Ohne Schulden gehe ich eher entschleunigt meinen Weg ins Berufsleben. Das ist, ganz klar, auch in Deutschland ein Luxus. Dennoch scheint mir die USA mehr zu grinden, ausgelaugt, unerbittlich und ein bisschen stolz. Gemütlichkeit ist out oder unrealistisch, denn der Grind is real.

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