Día de furia – Tag des Zorns

Es ist 22:00 Uhr am Donnerstagabend in Buenos Aires, draußen sind noch 28° und ich sitze zwischen einem einzigen Pack-Chaos in meinem kleinen Zimmer. Für morgen Abend habe ich einen Nachtbus nach San Luis gebucht, meine Reise zum Ende des Semesters und zum Ende meiner Südamerikazeit soll beginnen. Eigentlich.

Ob ich morgen wirklich losfahren kann, das weiß ich zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht. In der Regierung steht noch heute Nacht eine Entscheidung an, die für morgen vermutlich einen Generalstreik in ganz Argentinien auslösen wird. Und wenn die Argentinier streiken, dann streiken sie wohl richtig. Dann wird hier gar nichts mehr gehen. Aber abgesehen von der Durchkreuzung meiner Reisepläne könnte ein neues Gesetz noch heute das ganze Land verändern.

Heute Morgen kam das argentinische Parlament im Kongress in Buenos Aires zusammen, um ein besonders wichtiges, dringendes Gesetz zu verabschieden. Es folgten Stunden von Streit, Ausschreitungen und Gewalt und in den Medien ist die Rede vom Tag des Zorns, día de furia. Es geht um ein Gesetz zur Kürzung der Rente in Argentinien, das auch eine Veränderung in der ganzen Arbeitsregelung mit sich ziehen würde. Macris Regierung will die ohnehin schon sehr schmale Rente noch einmal um einige pesos kürzen. Aktuell erhalten die Rentner circa 8000 pesos, das sind 400€. Pro Monat. Und dieses Geld soll nun noch auf circa 350€ gekürzt werden – zugunsten der argentinischen Wirtschaft. Denn laut der Regierung geht es der argentinischen Wirtschaft gerade besonders schlecht, da muss wohl die Bevölkerung jetzt drunter leider. Der vermeintliche Wirtschaftsaufschwung, für den die aktuelle Regierung steht, hat Opfer vor allem bei der arbeitenden Bevölkerung gefordert. Die Arbeitslosigkeit ist in Argentinien recht hoch, in den letzten zwei Jahren stiegen die Mieten und Nebenkosten um 300% und die Löhne sinken. Wirtschaft hin oder her, der soziale Aspekt steht absolut nicht mehr auf dem Programm.

Die Zusammenkunft des Parlaments löste in Buenos Aires einige Demonstrationen aus, aber vor allem rief sie hunderte von Polizisten auf die Straße, die den Auftrag hatten, die Demos aufzuhalten. Das taten sie auch – und wie! In der Innenstadt, vor dem Kongress, wurden Wasserwerfer eingesetzt, mit Gummikugeln geschossen und Pfefferspray eingesetzt. Im Fernsehen sind Bilder zu sehen von Polizisten, die mit Schlagstöcken zu fünft auf einen einzigen Mann einschlagen, die einer Parlamentarierin Pfefferspray aus 1m Entfernung direkt ins Gesicht sprühen und die aus nächster Nähe mit Gummiwaffen auf die Demonstranten schießen. Man könnte denken, die Polizisten würden sich auf einen Krieg vorbereiten – nur, dass keiner hingeht. Die Bilder sind verstörend und gleichzeitig fast lachhaft, denn tatsächlich schießen sie auf einen fast leeren Platz. Ein Bild zeigt einen riesigen Strahl aus dem Wasserwerfer und davor ein einziger, vermummter Mann, der die Hände provozierend in die Höhe reißt. Es fliegen keine Backsteine, es brennen keine Mülltonnen, es randalieren keine Menschen. Die einzigen, die sich hier so richtig daneben benehmen, sind die Polizisten selbst.

Währenddessen sieht die Situation im Kongress selbst nicht unbedingt besser aus. Das Fernsehen spricht von einem Skandal im Parlament, schon lange hat man nicht mehr solche Diskussionen um eine Entscheidung gesehen. Einige Parlamentarier gehen sogar aufeinander los, es gibt eine kleine Schlägerei. Es wird geschrien und geweint, die Bilder laufen in Dauerschleife abwechselnd mit den Polizisten auf der Straße. Es geht im Parlament heute um Gerechtigkeit für die Ärmsten des Landes und die Sozialisten sind bitterlich am kämpfen.

Am Ende des Tages löste sich die Sitzung schließlich auf, weil keine Einigung gefunden wurde. Die landesweite Gewerkschaft hatte sich offiziell schon von ihrem Plan, für morgen einen Generalstreik auszurufen, abgewendet und die Straßen leerten sich, da kam die Nachricht auf, dass der Präsident Macri sich mit seinen Ministern in der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast, zusammensetzen würde, um noch heute Nacht durch eine Regierungsverfügung das Gesetz zur Rentenkürzung zu verabschieden. Ich war da gerade wieder zuhause angekommen, als durch die Straßen ein lauter Wutschrei hallte: Macri, hijo de puta! (Auf eine Übersetzung verzichte ich an dieser Stelle, der Präsident wird hier übel beleidigt). Wenn Macri heute noch tatsächlich das Dekret unterschreibt, das laut aktuellem Stand schon alle Minister akzeptiert haben, dann ist das eine besonders schwarze Nacht für die Demokratie in Argentinien. Denn damit wird er sich über jegliches demokratisches System hinwegsetzen und zusätzlich noch den kleinsten Hauch von sozialer Politik in den Wind schießen, den seine Amtszeit mal innehatte. Im Fernsehen ist die Rede von Verrat und hinterlistigem Handeln, von einem Übergehen der Bürger. Noch ist seine Unterschrift anscheinend nicht gemacht, doch schon jetzt ist es ein weiterer nennenswerter Tag bezüglich der Landespolitik während meines Aufenthaltes hier geworden. Die argentinische Politik ist eine Sache für sich und hat mich heute wieder zutiefst erschüttert.

Meine Mitbewohnerin sagt, sie würde eigentlich gerne auf die Straße gehen und zeigen, was sie von dem ganzen Quilombo hält. Doch sie findet die Polizei zu unberechenbar, denn die Situation ist schon heute tagsüber völlig aus dem Ruder gelaufen und mit dieser Einstellung ist sie nicht die einzige, denn es ist erstaunlich ruhig da draußen. Nur ein regelmäßiges Trommelkonzert ist in der Nacht zu hören, mal näher, mal weiter weg. Ana und ich, wir stellen uns raus auf den Balkon und sie hat eine alte Pfanne aus der Küche geholt und einen großen Holzlöffel, mit dem sie in das Konzert einstimmt. In Argentinien wird als Solidaritätsbekundung bei allen möglichen Situationen lauthals auf Kochtöpfe getrommelt, dies ist eine alte Tradition, die auch heute durch die Straßen schallt. Auf der Straße ist es in dieser Nacht ruhig, doch aus einigen Häusern ist die Unzufriedenheit und Enttäuschung buchstäblich zu hören.

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