Please Hold the Handrail. Oder: Erziehungsmechanismen im öffentlichen Raum

Diesen Eintrag will ich nun schon eine ganze Weile schreiben. Es soll um ein Kulturphänomen gehen, das mir von Anfang an aufgefallen ist. Bevor ich mich endgültig daran gewöhnt habe, will ich meine Verwunderung und meine Gedanken dazu für euch aufschreiben. Es geht um Hinweis- und Verbotsschilder, Vorschriften und Sicherheitsdurchsagen im öffentlichen und halböffentlichen Raum.

Besonders in den ersten Tagen und Wochen, nachdem der ärgste Jetlag verflogen und ich halbwegs aufnahmefähig war, sind sie mir aufgefallen. Am Flughafen, in der MTR, im Bus, an Rolltreppen und in Aufzügen, überall auf dem Campus, an Durchgangstüren, im Gemeinschaftsbad unseres Flurs… [Anmerkung Anne Wessendorf: Auch am Flughafen, als wir angekommen und als wir später nach Vietnam geflogen sind, wies eine freundliche Frauenstimme die Reisenden des Flughafenzugs darauf hin, sich immer gut festzuhalten: „Please hold the handrail during the whole journey.“ Als ob ich nicht so schon nervös genug gewesen wäre, in einem fremden Land auch alles richtig zu machen…] Überall hängen oder stehen Schilder mit freundlichen Hinweisen bis strikten Vorschriften. Alle davon verstehe ich, sind sie doch entweder (auch) auf Englisch oder Piktogramme. Viele sind mir vertraut, zum Beispiel das Verbot im Bus, die Füße nicht auf dem gegenüberliegenden Sitz abzulegen oder die für Behinderte, Schwangere, Senioren und Kinder reservierten Sitzplätze im öffentlichen Nahverkehr. Um diese Art Schilder soll es hier nicht unbedingt gehen. Dazu sei nur bemerkt, dass ihre Befolgung wesentlich penibler ist als in allen anderen mir bis dato bekannten Nahverkehrssystemen. Die reservierten Sitzplätze etwa werden entweder nach dem Prinzip des vorauseilenden Gehorsams frei gelassen (auch in sehr vollen MTRs konnten wir das gelegentlich schon beobachten) oder sie werden sofort und umstandslos geräumt.

Andere, wie das Verbot, in den Mülleimer zu spucken, die Toilette nach Gebrauch bitte auch zu spülen oder sich nicht auf die Toilettensitze zu stellen, sind mir neu. Und ich wundere mich über ihre Notwendigkeit. Ich verstehe sie auf einer „textlichen“ Ebene, ihre Funktion, ihr Inhalt, leuchtet mir nicht immer ein. Ferdinand de Saussure und seine Zeichenlehre lassen grüßen…

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Eine dritte Kategorie bilden die Schilder, die ich zwar kenne und verstehe, deren Einsatz mir aber seltsam vorkommt. Da gibt es in der Mensa beispielsweise die Bitte, die Flügeltür vorsichtig zu öffnen, weil dahinter jemand stehen könnte. So weit, so rücksichtsvoll. Aber besagte Tür hat FENSTER. Und die Eingangshalle dahinter bietet für mich keinen ersichtlichen Grund, sich genau vor diese Tür zu stellen und zu riskieren, dass sie mir an den Kopf geknallt wird. Schön finde ich auch den, für mein Empfinden, exzessiven Gebrauch von „beware of slippery floor“-Schildern oder -Aufstellern. Im Gemeinschaftsbad meines Flurs hängt eins auf Augenhöhe zwischen den Duschkabinen, ein weiterer knallgelber Aufsteller steht seit zwei Wochen zwischen den Waschbecken, auf die man beim Betreten des insgesamt vielleicht 15 m² großen Raums zuläuft.

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Auch draußen auf dem Campus sind diese kegelförmigen Aufsteller omnipräsent. Wird irgendwo etwas geputzt, gefegt, gewischt oder repariert (was ständig der Fall ist): „beware of slippery floor“. Hat es mal wieder geregnet und auf den Wegen haben sich Pfützen aller Größen gebildet: „beware of slippery floor“. Im Einkaufszentrum oder der MTR dasselbe Bild. Es ist, als könnten die Aufsteller nur in Paaren oder ganzen Gruppen existieren. Dasselbe gilt für die Sicherheitshinweise auf den Rolltreppen in jeder MTR-Station, Shopping Mall oder am Flughafen. In Deutschland beschränken sich die „Gebrauchsanweisungen“ für Rolltreppen in der Regel auf eine kleine Reihe Piktogramme am Anfang bzw. Ende der Rolltreppe. Nicht so in Hong Kong: Auf fast allen Rolltreppen, die mich bisher in oder aus dem Untergrund der MTR befördert haben, sind an den Seitenwänden, den Geländern, auf den Plattformen vor und nach dem Betreten große textliche und bildliche Sicherheitshinweise angebracht. „Kinder immer an der Hand halten“, „Nur mit flachem Schuhwerk betreten“, „Nicht rennen“, „Keine Kinderwagen, Rollstühle oder großes Gepäck“, „Nehmen Sie Rücksicht auf Kinder und ältere Leute“, einmal sogar „Keine weite Kleidung tragen“.

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In schöner Regelmäßigkeit ertönt auch die Durchsage „Please hold the handrail“ – Bitte immer am Geländer festhalten. In der Rush-Hour gibt es in den großen Stationen sogar Personen, die die Fahrgäste über Mikrophone daran erinnern, auch ja immer das Geländer festzuhalten – obwohl alle für europäische Verhältnisse vielleicht gerade einmal etwas zügiger gehen. Der MTR-Betreiber ergänzt diese Hinweise durch eine Plakat- und Video-Kampagne, die drastisch darstellt, was alles bei Missachtung dieser Anweisungen passieren könnte. Da werden einem kleinen Jungen die Sandalen symbolisch von bösen Krebsen kaputt geknipst. Vor einer Mutter mit Kinderwagen verwandelt sich die Rolltreppe nach unten in ein Hochhaus, von der ihr Buggy samt Kind in die Tiefe stürzt – zum Glück nimmt sie dann doch den Aufzug (das Video könnt ihr hier anschauen).

Oft ertappe ich mich dabei, wie ich diese Schilder überflüssig und unnötig dramatisch finde. Auch habe ich das Gefühl, bevormundet zu werden und dass mir jeglicher „gesunder Menschenverstand“, jegliche Wahrnehmung meiner Umwelt und Reaktionsfähigkeit abgesprochen wird. Und das regt mich furchtbar auf. Es lässt mich auch ratlos zurück: Warum stellen die Hongkonger überall diese Schilder auf? Ist diese krass hohe Anzahl wirklich nötig? Was würde passieren, wenn die Schilder plötzlich alle verschwänden? Finde nur ich das so bevormundend und infantilisierend? (Zumindest Anne Wessendorf geht es genauso. Dieser Artikel ist genauso ihrer wie meiner, so viel wie wir über dieses Thema schon diskutiert haben)

Auswirkungen hat die ausführliche Beschilderung auf jeden Fall. Ich habe noch nie so durchgängig friedliche ÖPNV-Nutzer erlebt. Egal, wie voll es in der MTR ist; egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit: Die Menschen laufen gemächlichen Schrittes durch die Gänge wie auf einem Sonntagsspaziergang, bleiben auf den Rolltreppen mehrheitlich brav und auf der linken Seite stehen, sodass etwas flottere Personen noch vorbeilaufen können, und werfen sich nicht in letzter Sekunde durch die sich schließenden automatischen Türen des Zugs. Ich weigere mich, diesen Umstand einfach auf die „Mentalität“ der Menschen hier zu schieben und auf den Schwerpunkt der Ausgeglichenheit und Wertschätzung des Anderen im Buddhismus oder Taoismus zu verweisen. Religion ist hier schließlich ähnlich präsent bzw. eben NICHT präsent wie in westlich-europäischen Großstädten. In der Pariser Metro, Londoner Subway, Berliner S-Bahn oder der Essener Straßenbahn wird man schließlich auch manchmal ordentlich angerempelt, wenn man zu langsam läuft oder auf der Rolltreppe auf der falschen Seite steht – christliche Nächstenliebe hin oder her.

Ich glaube eher, dass es sich hier um erlernte bzw. anerzogene Verhaltensweisen handelt. Im maussschen Sinne könnte man vielleicht von der „Körpertechnik des MTR-Fahrens“ sprechen. Die Hongkonger Kommilitoninnen und Kommilitonen, mit denen ich darüber gesprochen habe, meinten, ihnen würden die Schilder und Ansagen gar nicht so sehr auffallen. Dennoch müssen sie sie ja irgendwie wahrnehmen und sei es nur unterbewusst, da sie ja der Macht der Schilder folgen und deren Anweisungen befolgen. Und was sagt dieser Umstand dann über eine Gesellschaft aus? Offenbar wird den Menschen ja nicht zugetraut, selbstständig logische, vernünftige Schlüsse aus der Wahrnehmung ihrer Umwelt zu ziehen, wenn man sie ununterbrochen mit Warnhinweisen bombardiert. Ist das Verantwortungsbewusstsein, weil sich fürsorglich um die Fahrgäste gekümmert und ihnen „richtiges“ Verhalten beigebracht und permanent erinnert wird? Oder ist das Verantwortungslosigkeit, weil den Fahrgästen durch die Vorschriften das Vermögen abgesprochen und aberzogen wird, selbstständig die richtigen, vernünftigen, logischen Schlüsse aus einer Situation zu ziehen? Ist das, anschließend an die Überlegungen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zur Dialektik der Aufklärung, der direkte Weg in den Totalitarismus der Kulturindustrie, nur diesmal eben nicht über Reklame- sondern über Hinweisschilder?

Beobachtungen aus anderen Lebensbereichen als der MTR scheinen diese These zu bestätigen. Denn auch zu anderen Gelegenheiten haben wir schon festgestellt, dass unsere KommilitonInnen hier manchmal erstaunlich unselbstständig und autoritätshörig sind. Im Unterricht wird oft nur auf wiederholte Nachfrage der ProfessorInnen eine eigenen Meinung über etwas abgegeben – und dann auch in einer Art, die für mich große Unsicherheit ausdrückt. [Anmerkung Anne: ich weiß, dass es eigentlich nur damit zu tun hat, dass sie auch nie zu eigenständig denkenden Personen erzogen werden. Wegen des Systems der Schule. Manchmal tun sie mir dann auch Leid. Aber andersrum sind die Hongkonger auch sehr politisch, wenn es um die Unabhängigkeit von Hong Kong geht. Aber das führt hier auch zu weit und verdient vielleicht einen eigenen Blogeintrag…] In der Teeküche meines Flurs sah es in den ersten Wochen aus wie Kraut und Rüben. Ungewaschenes Geschirr von Flurnachbarinnen stand herum, die Spüle häufig voller Essensreste und der Boden bekleckert. Aber seitdem ein handgeschriebener Zettel freundlich daran erinnert, die Küche sauber zu halten, sieht der kleine Raum deutlich besser aus. Von den Geschichten aus unseren Sportteams (Anne ist im Ruderteam, ich im Schwimmteam) will ich gar nicht erst anfangen, die bräuchten einen eigenen Blogeintrag…

Oder denke ich da zu dystopisch und pessimistisch? Tragen mich meine kulturwissenschaftlichen Assoziationen gerade viel zu weit fort?

Vielleicht klärt sich ja noch alles auf (und dann teile ich meinen Aha-Moment natürlich gerne mit euch) bis dahin: Was wären eure Erklärungsversuche? Und habt ihr auch neue Verbotsschilder kennengelernt?

Liebe Grüße

Anne

5 thoughts on “Please Hold the Handrail. Oder: Erziehungsmechanismen im öffentlichen Raum

  1. Ist in England an meiner Austauschuniversität ganz genauso gewesen (und in den USA sind solche Hinweise ja ebenfalls Gang und Gebe – aus Angst der Hersteller, verklagt zu werden). Drum fände ich es interessant, das Phänomen mal mit Festland-China zu vergleichen und stelle die steile These auf, dass die angelsächsische Höflichkeit hier ebenso ihren Anteil hat, wie die disziplinierende Wirkung chinesischer Erziehung. Immerhin war Hongkong ja ziemlich lange britische Kronkolonie…
    Generell würde ich solche Bildsprache eher als Ausdruck und nicht als Ursache des Geleitet-Werdens verstehen. Es sind ja doch nur Bilder 🙂

    (Trotzdem sind mir diese ganzen gut gemeinten Hinweise bei den Briten auch mächtig auf den Keks gegangen; fühlte sich immer so furchtbar paternalistisch an..)

  2. Liebe Annen,

    vielen Dank für den spannenden Blogeintrag! Ich habe mich beim Lesen sehr über die großen Unterschiede zwischen Hongkong und ‘Mainland’, die ich hier wahrnehmen gewundert. Mit Verbotsschildern werden wir hier nun wirklich nicht überhäuft und das Verhalten in der Metro ist auch gänzlich anders. Die Priority-Seats deren Wertschätzung mir aus dem UK auch noch sehr geläufig ist, werden hier SOFORT besetzt. Die Gier nach einem Sitzplatz ist dabei manchmal so groß, dass mich das Einsteigen in eine U-Bahn eher an Reise nach Jerusalem als an Public Transport erinnert. Von den Toiletten möchte ich eigentlich gar nicht erst anfangen… gespült wird in der Regel nicht. Ich kann angesichts das Verhaltens hier schon ein wenig verstehen, warum Hongkong versucht mit einer Schilderwald Abhilfe zu schaffen. Ob, dass jedoch der richtige Weg ein wenig Rücksicht zu erzielen? Da bin ich mir auch nicht sicher…

    1. Lieber Paul und lieber Matthias,
      danke für eure Kommentare une die Eindrücke aus “euren” Ländern! Vielleicht sind die vielen Schilder dann ein weiteres, auf den ersten Blick nicht als solches ersichtliches, Überbleibsel der britischen Kolonialzeit. Auf jeden Fall ist es wie ein paar andere “Erbstücke” dieser 150 Jahre für die Hongkonger zur Gewohnheit geworden.

      P.S. Bei deiner Beschreibung des ÖPNV in Shanghai bin ich schon gespannt, das nächste Woche selber zu erleben! 😉

  3. Passt bloß auf, dass ihr in Deutschland dann nicht plötzlich hilfslos sein werdet, ohne all die “netten” Hinweise 😉

    Super Beitrag, danke! Hat Spaß gemacht zu lesen und ich habe das ein oder andere Mal verwundert, aber schmunzelnd, den Kopf geschüttelt.

    Bis bald!

  4. Passt bloß auf, dass ihr in Deutschland dann nicht plötzlich hilflos sein werdet, ohne all die “netten” Hinweise 😉

    Super Beitrag, danke! Hat Spaß gemacht zu lesen und ich habe das ein oder andere Mal verwundert, aber schmunzelnd, den Kopf geschüttelt.

    Bis bald!

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