Von Hunden, Selfies und Räucherstäbchen

Letztes Wochenende habe ich meine erste Reise innerhalb Chiles unternommen. Oder sollte ich besser sagen: Meine erste Flucht aus dem Großstadtchaos Santiagos? Wie auch immer, es war eine schöne und aufregende Flucht. Die Reise ging zunächst in das berühmt-berüchtigte Hafenstädtchen Valparaíso an der Pazifikküste, rund 1 1/2 Stunden Busfahrt von Santiago entfernt. Valparaíso hat über 280.000 Einwohner, aber im Vergleich zu Santiago ist es ein Dorf. Beim Anblick des Meeres aus dem schmutzigen Busfenster gerieten Ezgi, meine österreichische Mitbewohnern, Vilma, eine finnländische Austauschstudentin, die uns begleitete, und ich ins Schwärmen. Eine Lage am Wasser steigert meiner Meinung nach die Attraktivität jeder Stadt und ich muss sagen, dass ich den Anblick von Wasser in Santiago wirklich vermisst habe. Kein Wunder, wenn man das Privileg besitzt, in Konstanz am Bodensee zu studieren. Zwar fließt durch Santiago der Río Mapocho, aber dieser bietet zur Zeit einen eher traurigen Anblick. Das Flussbett ist um etwa Zweidrittel geschrumpft und zum Teil stark vermüllt, weil achtlose Passanten ihren Abfall hinunter werfen. Aber die Umweltverschmutzung in Santiago ist eine anderes Kapitel, nun erstmal zurück zu Valparaíso. Die Stadt ist berühmt für sein kulturelles, literarisches und künstlerisches Angebot und gilt deshalb als kulturelle Hauptstadt des Landes. Im Jahr 2003 wurde die Stadt von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Zudem ist Valparaíso Sitz des chilenisches Kongresses.

Valparaíso begrüßte uns Neuankömmlinge mit Sonnenschein und einem strahlend blauen Himmel. Nachdem wir unser Hotel (ja, wir haben uns ein Hotel gegönnt, ist ja schließlich Nebensaison) bezogen hatten, ging es sofort auf Besichtigungstour. Relativ plan- und orientierungslos erkundeten wir zunächst das Stadtzentrum und arbeiteten uns immer weiter in die sogenannten “Cerros” (Hügel) der Stadt hinauf. Von den Cerros Alegre und Concepción bot sich uns ein im wahrsten Sinne des Wortes überragender Ausblick über die Hafenstadt. Auf den beiden Cerros befinden sich zahlreiche Restaurants, Cafés und kleinere Boutiquen, die zum flanieren und stöbern einladen. Darüber hinaus sind sie ein beliebter Anziehungspunkt für Studenten, Künstler und Touristen wie uns. Schnell mussten wir jedoch feststellen, dass man sich auch nicht allzu weit von diesen touristischen Punkten entfernen sollte. Wir ließen uns von den Gässchen und Treppenauf- und abgängen der Stadt leiten und landeten plötzlich in einer Gegend, die wohl in keinem chilenischen Reiseführer empfohlen wird. Die Straßen waren wie ausgestorben, mit Ausnahme der vielen Straßenhunde, ein Anblick, an den ich mich hier in Chile bereits gewöhnt habe. Aber noch nie habe ich so viele Straßenhunde und “Gangs” von Straßenhunden gesehen wie in Valparaíso. Die Hunde sind dabei keineswegs aggressiv oder verängstigt, sondern sie suchen die Nähe der Menschen und lassen sich von ihnen füttern. Dass die vielen Straßenhunde nicht nur uns Ausländern auffallen, sondern auch von den Chilenen selbst als ein Problem wahrgenommen werden, zeigt eine Werbekampagne, die an die Hundebesitzer appelliert, ihre Hunde nicht auszusetzen (“No me abandones, soy parte de la familia” / “Verlass mich nicht, ich bin Teil der Familie”). Uns war etwas mulmig zumute und wir wollten gerade den Rückweg antreten, als ein älterer Herr auf uns zukam und uns den Rat gab, mit ihm auf den nächsten Bus zurück ins Stadtzentrum zu fahren. Außerdem empfahl er mir, meine Kamera sicherheitshalber im Rucksack zu verstauen – eine gute Idee. Nach unserem kurzen Ausflug in die zwielichtigeren Gegenden Valparaísos spazierten wir weiter durch die Altstadt, an Ständen mit handgefertigten Schmuck entlang, verweilten im Café und bestaunten die bunte Streetart an den Häuserwänden, den Böden und den Treppen. So oft wir konnten, nutzten wir die sogenannten Ascensores (Aufzüge), die das Stadtbild prägen. Die sechzehn erhaltenen Aufzüge bringen die Passagiere gegen kleines Geld bequem hinauf auf die wichtigsten Hügel der Stadt. Der Ascensor Artillería ist der älteste Aufzug Valparaísos und besteht größtenteils aus Holz – Nervenkitzel garantiert!

In den 1 1/2 Tagen, die wir in Valparaíso verbrachten, sind eine ganze Menge Fotos entstanden von denen ihr hier leider nur eine kleine Auswahl sehen könnt. Meine Kamera ist seit einigen Jahren mein treuer Reisebegleiter und sie hat ganz schön viel gesehen von der Welt. In Santiago hatte ich sie allerdings noch nicht dabei und das aus zwei Gründen: Bisher hatte ich noch keine Zeit, die “sehenswerten” Ecken Santiagos zu erkunden und zweitens fühlte ich mich nicht wohl bei dem Gedanken, meine Kamera durch Santiago spazieren zu tragen. Tatsächlich habe ich noch niemanden mit Kamera durch Santiago laufen sehen. Mit Kamera meine ich eine “echte” Fotokamera und keine Handykamera, mit der heute jedes Smartphone ausgestattet ist. Als leidenschaftliche Hobbyfotografin fällt es mir schwer, meine Kamera aus Sicherheitsgründen Zuhause zu lassen. Umso mehr freute ich mich darauf, sie in Valparaíso endlich hervorzuholen. In Valparaíso ist die Gefahr vor Diebstählen zwar nicht geringer als in Santiago, aber die anderen Touristen geben einem zumindest das Gefühl, nicht der einzige verrückte Mensch mit Kamera zu sein. Spiegelreflexkameras wie meine sind dennoch ein seltener Anblick, auch in Valparaíso. Stattdessen besitzt jeder ein fototaugliches Smartphone – ein Selfie hier, ein Selfie dort. Selfies machen können die Chilenen mindestens genauso gut wie die Deutschen…

Nach aufregenden Tagen in Valparaíso ging es am Sonntag mit dem Bus weiter in den Norden nach La Serena (“die Fröhliche”). Das Busnetz in Chile ist wirklich gut ausgebaut, die Busse sind verhältnismäßig zuverlässig, preisgünstig und bieten ausreichenden Komfort für lange Fahrten. Nur Wifi gibt es leider nicht, aber man kann ja auch nicht alles haben. La Serena liegt im sogenannten “Kleinen Norden” Chiles und erscheint wie eine kleine Oase in der hügeligen Wüstengegend. Der Kolonialstil der Häuser und Kirchen verleiht der Stadt ihren eigenen Charme. La Serena ist ein beliebter Urlaubsort für die Chilenen und im Durchschnitt einige Grad wärmer als Santiago und Valparaíso, so waren wir zwar nicht die einzigen Touristen, aber doch so ziemlich die einzigen Touristen aus Europa. Mit unserem “europäischen Aussehen”, meiner Kamera und unseren Unterhaltungen auf Deutsch erregten wir auch in La Serena die Aufmerksamkeit der Einheimischen. So waren neugierige Blicke und Fragen, wo wir denn herkommen und was wir hier machen, keine Ausnahmen. In der Markthalle La Recova im Stadtzentrum schlenderten wir von Stand zu Stand, ließen uns von den freundlichen Verkäufern bequatschen und probierten Schmuck und Jacken aus Alpaca-Wolle an. Ezgi erwarb mit großer Begeisterung ein holzgeschnitztes, mit Blumen verziertes Gefäß für Räucherstäbchen, bei dem der Rauch aus einzelnen Löchern qualmt. Aus mir noch unerfindlichen Gründen sind Räucherstäbchen in Santiago und offensichtlich auch in anderen Gegenden Chiles ein richtiger Verkaufsschlager. Auf jeder Feria (eine Art Flohmarkt) und in vielen Straßenständen werden Räucherstäbchen zum Verkauf angeboten. Auch in unserem Wohnzimmer stehen seit Kurzem Räucherstäbchen auf dem Esstisch (ich habe Ezgi hierfür stark in Verdacht). Ich kann die Begeisterung der Chilenen für Räucherstäbchen leider nicht teilen, da der Rauch lediglich meine Schleimhäute reizt und Hustenanfälle verursacht.

Am Montag unternahmen Ezgi und ich einen Tagesausflug ins Valle de Elqui. Das Elquital beherbergt viele kleine Dörfer und Städtchen und endlose Weinberge an den Hängen. Durch die Täler schlängelt sich der Río Elqui, dem die Gegend seinen Namen verdankt. In den Piscodestillerien können Besucher den gesamten Fertigungsprozess des Traubendestillats verfolgen und natürlich auch das fertige Produkt probieren. Pisco ist das aus Traubenmost gewonnene alkoholische Nationalgetränk Perus und Chiles. Ich persönlich favorisiere die abgewandelte Version “Pisco Sour”, ein Aperitif aus Pisco, Limettensaft, Zucker und Eiklar. Einen längeren Stopp machten wir in Pisco Elqui, einem kleinen Dörfchen im Elquital, in dem die chilenische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral ihre Kindheit verbrachte. Bei plötzlich unerwarteten Temperaturen von 20 Grad und Sonnenschein erklommen wir schwitzend und ächzend einen kleinen, mit Kakteen bewachsenen Hügel, um den Blick auf das unten liegende Tal und die umgebenden Berge zu genießen. Leider mussten wir am Abend mit dem Bus in unsere Unterkunft in La Serena zurückkehren und verpassten somit die Chance auf einen grandiosen Sternenhimmel, für den das Elquital berühmt ist. Zahlreiche Observatorien laden zum nächtlichen Sternegucken ein. Nun ja, ich werde auf meinen Reisen durch Chile sicherlich noch andere Möglichkeiten haben, die Sterne zu beobachten…

Der erste Wochenendeausflug hat sich in jedem Fall gelohnt und ich hoffe, dass noch viele Reisen folgen werden. Jetzt heißt es aber erstmal: Zurück nach Santiago und “Back to University”!

 

3 thoughts on “Von Hunden, Selfies und Räucherstäbchen

  1. Tolle Bilder und sehr schön geschriebener Post. Man bekommt einen guten Eindruck vom Land und auch der Mentalität. Obwohl Einheimische nicht oft zu sehen sind, soweit man das aus der Ferne beurteilen kann, sind die Bilder doch sehr aussagekräftig. Ich kann den nächsten Artikel schon kaum erwarten.

  2. So so so schöne Bilder Tomke! Es wird Zeit, dass du deine Kamera auch in Santiago ausführst 🙂

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