Get Your Bearings

Sich einzuleben stellt immer einer Herausforderung im Ausland dar. Erst recht, wenn man nur einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung hat und in einem quasi die Uhr tickt als wäre man das Krokodil, das Captain Hook jagt. Das Gefühl haben wir in Berkeley im Moment sehr: die Zeit vergeht zu schnell. Gerade haben wir uns eingelebt, einen Alltag aufgebaut und erste Freundschaften beginnen zu blühen. Darum ist das für mich ein guter Moment um euch einerseits meine Kurse vorzustellen, womit einige Fragen beantwortet werden und andererseits eine Möglichkeit selbst zurückzublicken, denn manchmal ist einem gar nicht bewusst, was man schon erreicht hat.

„Get your Bearings“ ist ein Ausdruck, den es wohl so nur in Berkeley gibt. Es ist eine Bezeichnung für Neuankömmlinge an der Uni, die erst einmal herausfinden müssen, wie alles läuft und vor allem welche Kurse man belegen wird. Die beste Übersetzung, die mir einfällt ist à la Urban Dictionary: „eine Peilung bekommen“. Besonders passend ist dabei natürlich, dass der Ausdruck bereits unser Schulmaskottchen in sich trägt. Auf dem gesamten Campus sind Bärenstatuen in verschiedenen Ausführungen zu finden: vom süßen Bärenjungen, über vorzeitlich aussehende Exemplare mit Säbelzähnen bis zum auf den Hinterbeinen stehenden Braunbären vor dem Stadion.

Ein anderes Beispiel aus der Reihe der Berkeley-Vokabeln ist übrigens die „Berkeley Ten“ oder „Berkeley Time“, ein etwas verkürztes akademisches Viertel. Alle Kurse beginnen also zehn Minuten nach der angegebenen Zeit. Und auch das ist etwas, das man in der Eingewöhnungsphase lernt. Man lernt vor allem sie zu schätzen!

Für uns bedeuteten die ersten beiden Tage an denen die Kurse stattfanden vor allem sehr viel Stress, Planungsgeist und Orientierungssinn. Hinzu kam noch eine ordentliche Portion amerikanischer Freundlichkeit, die man im Gespräch nach den Kursen an den Tag legen musste.

In Berkeley finden die Kurse alle zwei Tage statt: also entweder montags, mittwochs, freitags oder am Dienstag und Donnerstag. Um den ersten Mittwoch und den ersten Donnerstag an der Uni vorbereitet zu beschreiten habe ich als erstes eine Liste erstellt. Auf dieser Liste standen zunächst einmal alle Kurse, die ich mir im Internet von den verschiedenen Departments als interessant herausgesucht hatte.

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Zur Planung waren meine Excel-Fähigkeiten gefragt: Liste mit der Kursauswahl, Stundenplan für die zwei Tage “Kurs-Shopping” und schließlich für meinen letztendlichen Stundenplan

Anschließend wurden die besagten ersten Tage geplant und kamen dann schneller näher als man seine Kurse raussuchen konnte. Und diese Tage waren unglaublich anstrengend, da von 9 Uhr morgens bis 17 Uhr abends ein Kurs nach dem anderen besucht wurde, ein neuer Raum gefunden werden musste und ein neue Dozent freundlich gefragt wurde ob man noch auf die Warteliste für den Kurs könnte. Ich war so von Eindrücken überfordert und Entscheidungen bedrückt!

Doch letztendlich bin ich sehr mit meiner Kurswahl und vor allem meinem Stundenplan zufrieden. Jeden Montag-, Mittwoch- und Freitagmorgen habe eine Stunde lang „Refugees in German Literature“ bei einem Gastprofessor am German Department:

Refugees in German Literature

Der Kurs passt sehr gut zu dem, was ich im letzten Semester in Konstanz gemacht habe. Der Dozent ist noch ganz jung und erinnert sich noch gut daran, wie viel Lesepensum man an der Uni hat und wie viel man dann tatsächlich schafft. Darum ist der Leseaufwand bewusst so gehalten, dass man immer vorbereitet zum Kurs kommen kann. Das ist auch wichtig, weil wir hier eine ganz kleine Gruppe sind. Hierdurch sind die Diskussionen aber auch sehr belebt und jeder kommt zu Wort. Ella ist mit mir in dem Kurs und hier haben wir die besten Freunde aus der Uni gefunden mit denen wir auch außerhalb des Kurses etwas unternehmen. Die Textauswahl beinhaltet wichtige Darstellungen von Flüchtlingen im 20. Und 21. Jahrhundert. Besonders an diesem Kurs ist weiterhin, dass wir nur zwei Bücher kaufen mussten und keinen Reader haben, sondern alle anderen Texte auf der Lernplattform „bCourses“ zugänglich sind. In anderen Kursen kann das deutlich anders aussehen: zum Semesterbeginn verschulden sich hier viele Studenten nur um alle ihre Materialien zu besorgen.

Am Dienstag und Donnerstag habe ich dann zwei Kurse, die direkt aufeinander folgen. Der Tag beginnt immer mit einem Kurs zu Kinderliteratur.

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Children’s Literature in Theory, Context, and Practice

Das ist mein absoluter Lieblingskurs an der Uni. Gleich nach der ersten Stunde war ich ganz begeistert von der Professorin. Sie ist selbst Kinderbuchautorin, hat uns auch zu ihrer Party zur Veröffentlichung ihres neuesten Buches eingeladen und ist insgesamt sehr engagiert (zu einem paper bekomme ich von ihr regelmäßig eine komplette Seite mit Kommentaren!). Ein Satz, der mir seit dem Beginn im Kopf geblieben ist, ist ihre Aussage, dass akademisches Schreiben auch kreativ sein kann und sollte. Auch während des Unterrichts merkt man den Spaß, den sie an der Sprache hat. Ich glaube, dass sie ein großer Fan von Wortspielen ist.

Ich bin so froh, dass ich die Chance bekomme Kinderliteratur akademisch zu untersuchen. Ich denke, dass es als Thema an Literaturlehrstühlen fälschlicherweise viel zu häufig nicht ernst genommen wird. Dabei sind die ersten Leseerfahrungen häufig sehr prägend und die Themen in den Büchern keinesfalls einfach. Manchmal ist es schließlich eine große Herausforderung, komplexe Dinge einfach und verständlich auszudrücken. Und viele der Bücher, die wir behandeln, bestehen aus deutlich mehr als nur dem Plot. Teilweise werden sehr tiefgründige Fragen und Diskussionen aufgeworfen. Darüber muss ich nun auch immer häufiger in meinem Alltag nachdenken. Erst letztens bin ich im Gespräch mit Laura wieder mehrmals auf das Thema zu sprechen gekommen: zuerst haben wir uns über die Bedeutung von Namen ausgetauscht. Was macht ein Name mit einem Menschen? Inwieweit fühlen wir uns mit unserem Namen einzigartig oder nicht? Und schon kam mir Die Unendliche Geschichte in den Kopf, da hier die Namensgebung als wichtiger Moment dargestellt wird. Später haben Laura und ich über das Thema Tod und Krankheit in der Kinderliteratur gesprochen, über Diskurse die sich in der Gesellschaft verändert haben und Kindersterblichkeitsraten… Ich hoffe, dass Laura bald über ihren Kurs zum Aufkommen des Teenagers in den USA schreibt, denn dieser hat uns auch schon viel Stoff für Diskussionen und neuen Denkanstößen geliefert. Hierbei spielt natürlich auch immer wieder die amerikanische Kultur eine Rolle und wird zum Analysegegenstand selbst. In meinem Kinderliteraturkurs lesen wir zwar nicht nur, dennoch vor allem US-amerikanische Kinderliteratur. Die Auswahl ist dabei natürlich immer sehr interessant. Mit einigen Büchern war ich zuvor gar nicht vertraut, selbst wenn diese in den USA zu den bekanntesten Kinderbüchern zählen. In diesen finden wir dann auch Themen wie den american dream, going west oder die Vorstellung von der Herstellung eines Helden.

Für diesen Kurs lesen wir fast jede Woche ein Kinderbuch sowie Sekundärliteratur dazu, in einer Woche haben wir aber auch schon mal mehrere Bücher besprochen. Dazu gibt es dann jedes Mal ein reading quiz und einen Diskussionsbeitrag, der auf bCourses online gestellt wird. Hinzu kommen paper, die geschrieben werden müssen und ein final paper. Doch trotz des Aufwandes bin ich immer wieder sehr froh darüber, in diesen Kurs gekommen zu sein. Und das nicht zuletzt, da ich auch in diesem Kurs so liebe Leute gefunden habe, mit denen ich außerhalb der Uni Zeit verbringe!

Sobald Kinderliteratur vorbei ist, muss ich mich immer beeilen und in ein anderes Gebäude laufen. Dort beschäftige ich mit einem anderen grundlegenden Thema: Kulturerbe.

Cultural Heritage in the Popular Media

Überzeugt hat mich auch in diesem Kurs zunächst einmal die Dozentin. Wie aus dem Nähkästchen hat sie interessante Geschichten geteilt und ihre eigene Meinung zu Diskussionen über kulturelles Erbe abgegeben. Sie selbst schreibt für mehrere Blogs und versucht die Vergangenheit in der Gegenwart darzustellen. Der Kurs selbst ist als writing intensive Kurs ausgelegt. Wir lernen für ein anderes Publikum zu schreiben als das akademische. Wie können komplexe Sachverhalte und Diskurse einfach aber nicht verfälscht dargestellt werden? Wie gehen verschiedene Medien diese Herausforderung an? Ein Großteil des Kurses besteht in Workshops, in denen wir uns gegenseitig bei unseren Projekten unterstützen. Dabei mussten wir zunächst einmal lernen, wie Kritik angebracht wird. Ich bin in dem Kurs gemeinsam mit Uwe und es ist sehr interessant, dass wir beide zunächst sehr verwundert waren, wie die Arbeit des anderen mit Samthandschuhen behandelt wird. Kritik wird erst bei aufgebautem Vertrauen offen entgegengebracht. Ich frage mich, ob das auch auf die Gesellschaft übertragen werden kann. Kommen daher eventuell stereotype Vorstellungen des unfreundlichen Deutschen? Wie passt das dann wiederum zu den offenen und manchmal ungefragten Meinungsbekundungen auf amerikanischer Seite? Wie wird determiniert mit welchen Themen offen und direkt umgegangen wird und mit welchen nicht?

Da dieser Kurs speziell von einem Programm gefördert wird, haben wir neben der Professorin noch eine zweite Ansprechpartnerin. Beide sind sehr zugänglich. Insgesamt spielen office hours hier eine sehr große Rolle. Auch wenn ich immer noch zu schüchtern bin, um ohne Grund ins Büro zu gehen, ist es hier Normalität mit den Professoren zu quatschen und zu Versuchen eine Verbindung aufzubauen. So war es auch ganz normal, dass Uwe und ich unsere Cultural Heritage Professorin einmal in einem Café beim Mittagessen zufällig getroffen haben und dann mit ihr gequatscht haben. Danach war auch unser Stand in dem Kurs gleich ein anderer. Es scheint ein wichtiger Punkt zu liegen sein, das eigene Engagement in den Kursen bewusst zu zeigen. Ich habe zum Beispiel das Gefühl, dass meine eine Freundin aus dem Kinderliteraturkurs jede Woche in die Sprechstunde geht.

Vielleicht hat mich Hennis letzter Beitrag dazu inspiriert, einfach „frei von der Leber“ (wie Herr Oettinger mir wohl als Ausdruck empfehlen würde) zu schreiben. Natürlich bleiben immer noch viele Fragen offen. Doch ich wollte einfach mal wieder mit euch teilen, was im Moment bei mir vor sich geht. Gedanken über mögliche Beiträge habe ich nämlich sehr häufig, für einige sind auch schon Word-Dokumente mit möglichen Titeln auf meinem Computer, doch tatsächlich zu schreiben ist manchmal schwer. Einerseits liegt das an der Zeit, die dafür gefunden werden muss und andererseits ist es für mich schwer unvollendete Gedanken „festzuschreiben“. Ich bin mal gespannt, ob sich das in der letzten Zeit noch verändern wird: die Uhr tickt schließlich.

3 thoughts on “Get Your Bearings

  1. Josie! Es ist wirklich wirklich schön zu hören, dass es dir so viel Spaß macht und dir so viel zum Nachdenken gibt. Und die Alice-Ausgabe sieht toll aus! Ich hatte seit ich hier bin ein paar mal diesen Satz “down the rabbit hole” im Kopf, z.B. wenn die Locals wieder in Gruppen über den Campus ziehen, Fahnen schwenken und ihre Chants schreien…
    Habt ihr eigentlich vor, die ganzen Bücher wieder mit nach Hause zu nehmen? Da hat sich doch bei euch kollektiv einiges angesammelt, oder? 🙂

    1. Mareike! 🙂 Ja, auf den Alice-Second-Hand-Fund bin ich auch sehr stolz! Tabea hat ja auch in ihrem Post wieder gezeigt, dass Zitate daraus in jede Lebenssituation passen. Das ist also ein Schatz, den ich auf jeden Fall mit zurück schleppen werde. Insgesamt versuche ich allerdings den Kauf so gering wie möglich zu halten – glücklicherweise ist für den Kinderliteraturkurs die Public Library ja eine perfekte Ressource (auf die komischerweise keiner meiner Kommilitonen zu kommen scheint – Konsum und Besitz spielt eventuell auch bei Studenten eine andere Rolle? Oder ist es einfach nur Bequemlichkeit? Amazon oder Student Store sind eben doch näher). Insgesamt haben wir jedoch zusammen einen ganz schönen Stapel, der sich wohl nicht so einfach zurücknehmen lässt: die meisten Bücher werden wieder an den Student Store verkauft, denke ich.

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