“You don’t know how it feels”

Ich belege einen Kurs über Rassismus in den Vereinigten Staaten. Eigentlich habe ich Theorien über Fremdheit, Migration und Othering-Konzepte bereits im Grundstudium gelernt, doch ich hatte das Bedürfnis, diese Thematik hier erneut aufzugreifen. Ich wollte wissen, wie diese Themen in einem Land verhandelt werden, das zum einen aus Einwanderern und Vielfalt besteht, zum anderen auf Landnahme und Ausbeutung fußt und das im November eventuell Donald Trump wählen wird.

In der ersten Sitzung hatten wir Ta-Nehisi Coates‘ „Between the World and Me“ gelesen; einen Brief an seinen Sohn, in dem er all seine Gedanken über seine Identität, seine Herkunft, seinen Frust und seine Hoffnung als schwarzer Amerikaner bündelt. Ausdrücke, wie „schwarz“ oder „Rasse“ mögen uns fremd erscheinen, in den USA sind dies gängige Alltagskategorien. Das Buch war ein Bestseller und ich hatte es bereits auf meinem Flug nach San Francisco gelesen. Mein naiv-arrogantes erstes Feedback war, dass ich Coates‘ Schilderungen etwas übertrieben fand. Das Straßenleben in Baltimore klang für mich mehr nach einer Hollywood Gangsterstory; seine Sprache war mir zu emotional und auch irgendwie zu amerikanisch.

Nun saß ich in der ersten Diskussionsrunde und wir debattierten über den Einfluss, den ein solches Buch auf die US-Gesellschaft haben kann. Nach vielen interessanten Beiträgen meldet sich Muhammed, ein schwarzer mit weiten Jeans, Nike Air und einem Kamm, der in seinem Afro steckt. Er forscht über Gustave Flaubert, hatte er in der Vorstellungsrunde angegeben. Hätte ich ihn auf der Straße getroffen, dann hätte ich ihn wohl ganz anders verortet. Auch der Ethnologe ist vor Stereotypen nicht sicher. Muhammed sagt, dass er nicht sicher sei, ob die meisten hier wirklich verstanden hätten, was Coates mit der Ausbeutung schwarzer Körper, allgegenwärtiger Angst vor institutionalisiertem Rassismus und Identitätskonflikt meine. Er sagt, es sei unbeschreiblich mit dem Gefühl aufzuwachsen, anders zu sein, tendenziell als kriminell angesehen zu werden und eine kaum bekannte Vergangenheit in Afrika zu besitzen, die mit dem eigenen Leben nichts zu tun hat. Er fügt an, dass er selbst wie Coates aufgewachsen sei, dass er die Straßengangs und Verhaltenskodexe kenne, dass er wisse, wie es ist, wenn Waffen bereits zum Alltag von Grundschulkindern gehörten. „You don’t know how it feels“, resümiert er. Stille tritt ein.

Ich betrachte den Kamm in seinen Haaren; ein Protestzeichen gegen weiße Schönheitsideale, denen sich zu viele Schwarze beugen, sich die Haare glätten, färben, Chemikalien einarbeiten und Whitening Creams in ihrem Gesicht auftragen. In „Black skin, white Masks“ beschrieb Frantz Fanon bereits vor über 60 Jahren die Konflikte dieser Identität, der durch Kolonisierung und Sklaverei ihre Geschichte genommen wurde, die westlichen Lebensstil adaptiert hat, aber dadurch dennoch nicht gleichwertig wurde. In diesem Kamm steckt plötzlich sehr viel Tiefe.

I.

Fast niemand in diesem Kurs lässt sich als typischer „White American“ beschreiben. Auch in anderen Seminaren mit ähnlicher Thematik, z. B. über die Social Movements,  herrscht ein vergleichbares Sampling. Sind diese Themen etwa nur für diejenigen relevant, die sich betroffen fühlen? Allein diese Beobachtung könnte für sich als Aussage stehen.

Rasse ist identitätsstiftend.

In meinem Kurs sitzen fast nur „Hyphenated-Americans“. Ein schrecklicher Terminus, der auf unterschiedliche Herkünfte und „Mischlinge“ verweist und der in diesem Land einerseits lächerlich wirkt und andererseits ein wichtiges Standbein der Gesellschaft markiert. Jeder verweist auf Herkunft, Religion oder Nation und wird dann zu Italian-Russian-Jewish, Asian-Black, German-Polish, Mexican-American, etc. Herkunft ist auch nach Generationen in Nordamerika noch äußerst wichtig. Sie bestimmt über Gruppenzugehörigkeiten und Identität.

Carlos erzählt von seinem Viertel in LA, in dem nur spanisch gesprochen wird.  Wie stolz seine Eltern gewesen seien, als er in Berkeley aufgenommen wurde. Er erzählt, wie oft er für sein schlechtes Englisch verspottet wurde und wie ihn nun seine alten Freunde für seine Interessen und seine akademische Sprache verspotten. Obwohl er zu seiner Herkunft stehe, sei ihm der tiefere Kontakt zu seinem alten Umfeld abhandengekommen, zu wenig gebe es, was er noch mit seiner Familie teilen könne. Dennoch wird er der Hispanic bleiben, irgendwo dazwischen, meint er.

In meinem anderen Kurs regt sich die Dozentin darüber auf, dass Louisiana das Wort „Ausbeutung“ aus seinen Schulbüchern gestrichen habe und rät schockierten schwarzen Studentinnen, dass sie dort besser nicht einmal hinfahren sollten.

Mit meinem Vermieter hatte ich ein längeres Gespräch nach der Fernsehdebatte zwischen Trump und Clinton. Wie eigentlich alle Amerikaner, mit denen ich bislang zu tun hatte, schämt er sich für Trumps Erfolge. Seine Aussagen seien peinlich und lächerlich, jedoch sei dies kein Argument für seine Befürworter. In diesem Wahlkampf gebe es keine Rationalität und Clintons Schlagfertigkeit würde an den verhärteten Fronten nichts ändern. Amerika nehme kaum Flüchtlinge aus Syrien auf, im Land herrsche wohl kaum Bedrohung. Er denkt, dass es um Imaginationen, Ängste vor der Globalisierung und die Unsicherheit um den eigenen gesellschaftlichen Status gehe. Letztlich seien es Klassenunterschiede, die hier zum Vorschein kommen würden.

Mein Vermieter findet aber auch, dass die Sklaverei seit über 150 Jahren abgeschafft und die Gleichstellung doch seit Jahrzehnten erreicht sei. Er meint, 2016 brauche es doch keine „Black Lifes matter“-T-Shirts mehr. Die Leute sollten endlich ihr Trauma überwinden und sich nicht ständig mit der Vergangenheit beschäftigen, wobei sie ihre Opfer-Identität immer wieder neu reproduzieren würden. Teilweise hat er sicher Recht, teilweise ist das auch leicht gesagt in den Hügeln von North Berkeley, zwischen Rehen, Eichhörnchen, Joggern und Intellektuellen.

Die Klassenunterschiede treten deutlich in Erscheinung.

Drastischer, als ich das gewohnt bin. Eine Doktorandin des German Department meinte  hierzu, dass Kalifornien und vor allem die Bay keine Mittelschicht mehr habe. Sie sei hier aufgewachsen und merke, wie die Schere zunehmend auseinandergehe. Als Studenten stehen wir dazwischen. Kulturell und Sozial mögen wir nach oben tendieren, ökonomisch liegen wir mehr im 99ct Store. Zwischen Restposten und Bedürftigen machen wir dann unseren Grundeinkauf, für Gemüse und besondere Produkte gehen wir zu Trader Joe’s, einer Discount-Kette der Aldi-Brüder. An sich ist das nicht schlimm. Keiner von uns muss auf etwas verzichten, außer vielleicht auf guten Käse und Brot. All das gäbe es bei Whole Foods in der Organic Version. Doch Bio, Healthy und Weltretten muss man sich leisten können.

Kindermädchen, Hausmeister, Maler und Putzkräfte sind fast ausschließlich schwarz oder Hispanics. Eine übergroße Zahl der Homeless ist schwarz. Generell ist Obdachlosigkeit allgegenwärtig.

Während eine Politesse mit ihrem Golfwagen die Straße entlangfährt und fleißig Strafzettel in Downtown verteilt, sitzt am Bordstein ein Obdachloser und erhitzt seinen Teelöffel. Beide nehmen keine Notiz voneinander. Ich schließe still mein Rad ab und denke an den American Dream.

Der Boden von Treasure Island ist radioaktiv verseucht. Die Hälfte der Gebäude steht leer, wird asbestsaniert oder abgerissen. Trotzdem leben hier Menschen. Einkommensschwache und Studenten quartieren sich in den ehemaligen Navy-Unterkünften ein. Ein traumhafter Blick auf die Skyline San Franciscos ist alles, was dieser düsteren Atmosphäre Glanz verleiht.

II.

Wir sitzen in Milas WG in Oakland und trinken Wein. An diesem Abend reden wir viel über Bosnien und Mostar, der Stadt aus der Mila mit ihrer Familie nach Freiburg geflohen war. Wir sprechen über das ehemalige Jugoslawien, über Flüchtlinge, über Milas Rolle als Bosnische-Serbin in ihrem Untersuchungsfeld zur Bosnischen Diaspora in SF und meine Rolle als Deutscher in einem Kurs über Rassismus, über falsche Schuldgefühle und über echte Verantwortung. Vordergründig erinnert nichts daran, dass hier letzte Woche eingebrochen wurde, dass das Gefühl eines sicheren Zuhauses aus dieser Wohnung verschwunden ist.

Mila war aus der Dusche gekommen, als sie den Mann im Flur traf, der später ihren Laptop mit allen Transkripten für ihre Masterarbeit mitnahm. Sie dachte, er sei ein Freund ihres Mitbewohners und stellte sich vor, ermahnte ihn noch, sich nicht mit den Sneakers auf ihrer Jogamatte zu stellen. Ihren Mitbewohner fand sie dann zusammengekauert in seinem Zimmer. Der Typ habe eine Waffe, stammelte er. Kurz darauf standen beide halbnackt auf der Straße und hielten das nächstbeste Auto um Hilfe bittend an. In der späteren Bestandsaufnahme fragte der Polizist nach der Rasse des Täters. „Human Race“, gab Mila spöttisch an, doch das fanden die Polizisten nicht lustig. Letztlich unterschrieb sie ein Dokument, in dem unter Rasse „Black“ eingetragen wurde. Unabdingbar für die Ermittlung, aber auch ein weiterer Punkt in der Statistik. Einige Tage vor dem Überfall hatten wir uns noch darüber unterhalten, dass all diese Vorurteile gegenüber Oakland und der schlechte Ruf der Stadt lange überholt seien. Der Polizeiticker lässt an manchen Tagen anderes vermuten. Eigentlich ist das der traurigste Part der Geschichte.

III.

Muhammed meint, Rassismus in den USA sei Strukturschwäche. Er sei ein Fehler des Bildungssystems, das zwischen arm und reich differenziert, in dem der Ort der High School mehr wert ist, als die Noten, da Schulen kommunal aus der Grundsteuer finanziert würden. Rassismus basiere auf falschen historischen Narrativen und Unwissenheit. Die Gesellschaft sei zu ungebildet und zu wenig sensibilisiert für anthropologische Themen. Ich denke an meine Schulzeit und den omnipräsenten Nationalsozialismus in deutschen Lehrplänen. Dennoch gibt es Pegida und die AfD – ein anderer Kontext zwar, doch Xenophobie, diffuse Ängste, Ignoranz und ökonomische Aspekte bilden dieselbe Struktur dahinter. Bildung allein, oder eine etablierte Erinnerungskultur können der Schlüssel nicht sein.

Letzte Woche, nach einigen Texten über Diskurstheorie und Macht, fragt sich eine Studentin, wie sie ihr wissen nun sinnvoll in die Gesellschaft einbringen soll. Was solle sie arbeiten, was könne sie tun, um einen Einfluss auszuüben? Weitere Fragen bestimmen die kommenden Sitzungen. Wiederholt sich Geschichte? Sind Grenzen, Definitionen und Kategorien nicht etwas grundlegend menschliches? Schaffen anthropologische Dekonstruktionen wieder neue Grenzen? Die kargen Antworten wirkten etwas verzweifelt. In Gedanken war ich wieder im Grundstudium, bei denselben Fragen, endlosen Debatten in Freiburger Kneipen, an Küchentischen und am Telefon. Die ultima ratio lässt sich nicht finden.

Man kann nur im Kleinen beginnen.

 

6 thoughts on ““You don’t know how it feels”

  1. Was ein toller Text Uwe! Ich musste mir leider Muhammed auch in einem klischeehaftem Bild in meinem Kopf vorstellen, nur dass er in meinen Gedanken gerade “Les Fleurs du Mal” liest und versucht seine Umgebung damit zu aufzuklären. Ja, leider sind auch wir, so oft wir es versuchen zu dekonstruieren, von Stereotypen beeinflusst! Das sind echt bewegende Geschichten.
    Mir tut es echt Leid für Mila:( wie schlimm muss das sein.. Ich hoffe (auch wenn ich es nicht ganz glaube), dass Ihre Sachen wieder auftauchen…
    Zu den endlosen Debatten kann ich mich nur anschließen und hoffen, dass wir alle mal, auch diese eine Studentin irgendwas auf dieser kaputten Welt bewegen können…

    1. Vielen Dank. Mila heißt eigentlich anders 😉 Und sie nimmt das Ganze außgesprochen gelassen. Sonst wurden keine Wertgegenstände entwendet. Sie hatte so viel Glück im Unglück, findet sie. Ich finde diese Einstellung recht beeindruckend.

  2. Ich danke euch. Mir sind die ganzen Beobachtungen sehr wichtig, aber ich kann es noch nicht richtig bündeln, deshalb kam so ein Puzzel-Text aus Eindrücken dabei heraus. Aber dafür ist unser Blog ja da.

  3. Kann mich nur anschließen! Und gerade die Puzzleteile vermitteln ja mehr als alles andere. Franzi und ich sammeln gerade auch zum Thema Jugend, Bildungssystem und “asiatische Werte” und haben die ganze Zeit das Gefühl, es reicht noch nicht. Aber das Ganze ist ja ohnehin eher work in progress. Bin gespannt auf die nächsten Teile. Das gilt genauso für euch, Ella und Laura. Großes Puzzle, alles zusammen.

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