Über Irrfahrten oder Happy Independence Day!

„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,

welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung

Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat

Und auf dem Meere so viel’ unnennbare Leiden erduldet…“

Ich gebe es zu – meine Reise mit der Odyssee zu vergleichen, ist nichts weiter als literarische Überzeichnung. Schließlich dauerte die Irrfahrt Odysseus’ zehn Jahre und meine Reise bisher einen schlappen Monat. Der Punkt geht also eindeutig an ihn. Dann habe ich vor diesem Auslandssemester keine zehn Jahre in einem zähen, verlustreichen Krieg gekämpft, sondern nur drei Jahre in meinem Bachelorstudium und ein Jahr in meinem Master verbracht. Gut, der Punkt geht eindeutig an mich.

Aber, und das ist wohl der große Unterschied, während Odysseus verzweifelt versucht hat, wieder nachhause zu kommen, ist bei mir an Heimreise noch gar nicht zu denken. Im Gegenteil!

Und trotzdem tauchten gerade an diesem 15. August, dem Independence Day Indiens, immer wieder Homers Verse in meinem Kopf auf. Vermutlich bin ich zum Teil selbst daran Schuld. Ich habe mir ja eingebildet, dass ich inzwischen mit indischen Menschenmassen gut umgehen könnte und mit meinen bisherigen Erfahrungen ausreichend qualifiziert wäre, mich mitten in den Trubel zu begeben. Ich schnappe mir also meine beiden Room-Mates und fahre mit der Metro zum India Gate und stelle fest: Diese Idee war genauso blödsinnig wie Odysseus, der dachte, er könne es sich leisten, einen Gott zu beleidigen. Die Massen kriechen nicht gemütlich wie sonst durch die Straßen – sie brodeln! Überall Geschrei, Lärm, Menschen, die Selfies machen, Menschen, die Drachen steigen lassen (das ist anscheinend eine indische Spezialität – immer wenn etwas gefeiert wird, lassen die Leute Drachen steigen; dafür gibt es sogar ein eigenes Fest!), die Essen verkaufen, die ihre Kinder suchen… Menschen, die mit grün, weiß, orangenen Pinselsets auf dich zugerannt kommen und sich nur durch äußerst akrobatische Ausweich-Techniken davon abhalten lassen, dir die indische Fahne auf Backe, Stirn und sämtliche andere Körperteile zu malen – und natürlich hinterher dafür Geld zu verlangen; ich meine, patriotisch ist man ja gerne, aber nur, solange dabei auch was rumkommt!

20160815_142523 (Was wäre ein indisches Event ohne Warteschlange?)

Dem einen oder anderen mag der sarkastische Unterton aufgefallen sein – denn das Land, das mit schweren inneren Unruhen zu kämpfen hat, dessen Auseinandersetzungen mit Pakistan aggressiver und aggressiver werden, dessen soziale Probleme durch Armut, Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt das nach wie vor präsente Kastensystem nicht von der Hand zu weisen sind, präsentiert sich an diesem Tag als Zaubertraum aus einem Märchenbuch. Die ganze Prachtallee von den Regierungsgebäuden bis zum India Gate ist gesäumt von kleinen Ständen, in welchen alle Regionen kulinarische Spezialitäten, besondere Handwerkskunst, Stoffe, Kleidung und Töpfereien angeboten werden und wo bunte Tänzer und Sänger ihre Kreise drehen, während die Luft von den unterschiedlichsten Melodien dröhnt. Dazwischen riesige Plakate mit den „schönsten“ Orten Indiens – das Taj Mahal in der Morgendämmerung, das Rote Fort, ein blutroter Wüstentraum in einer tiefstehenden Sonne, schneeweiße Himalaya-Gipfel… Ich habe das Gefühl, dass der Independence Day den Indern dazu dient, sich sich selbst zu „erträumen“. Denn alle Darstellungen, alle Kleidung, alles Essen sind „traditionell“, aus einer Schatztruhe der Vergangenheit hervorgeholt, aufpoliert und ausgestellt. Kein Wort über die Unruhen, die politischen Parteien, die sich bekriegen und die Menschen spalten.

Am 15. August haben sich alle Inder lieb und feiern ihre großartige Vergangenheit. Über die indische Zukunft sagen mir diese bunten Stände wenig. Über die indische Gegenwart auch, dafür sprechen höchstens die Kontrollen am Eingang, wo alle Taschen durchleuchtet und jeder gründlich abgetastet wird. Und ich meine gründlich. Beinahe hätte ich die Sicherheitsbeamtin gefragt, ob sie nicht meine Telefonnummer haben wolle, damit wir uns erst einmal auf ein normales Date treffen könnten, bevor sie mit dem Abtasten weitermacht. Einiges haben auch die grimmigen Blicke der Soldaten zu sagen, die überall in den Schatten der vereinzelten Bäume stehen – hier ohne die alten Gewehre, die vermutlich im letzten Clint Eastwood Film als Requisiten gedient haben, dafür mit schimmernden schwarzen Maschinengewehren. Die Angst vor einem Anschlag verschwindet aber unter den schillernden Röcken der buntbemalten Tänzer aus Rajastan, die mit mir gefühlt genauso wenig zu tun haben, wie mit den aufgestylten jungen Indern in Röhrenjeans und Ray Ban Sonnenbrillen, die uns Europäerinnen für die viel größere Attraktion halten als das Indian Gate. One picture, please Madam, just one picture with you! Der erste bleibt auch noch höflich eine Armlänge entfernt stehen. Die anderen drei (gleichzeitig versteht sich) rücken schon näher heran. Der 23., der gefühlt drei Sekunden später neben mir auftaucht, legt wie selbstverständlich den Arm um mich und drückt mich an sich, oder vielleicht eher sich an mich, denn er ist anderthalb Köpfer kleiner. Ich habe das Gefühl, dass auf diesem Bild von meinem Gesicht nicht viel zu sehen sein wird… In diesem Augenblick fühle ich mich weniger wie Odysseus als vielmehr wie Kirke, mit dem drängenden Bedürfnis, den Mann in ein Schwein zu verwandeln.

14044989_1010834255631830_823399150_o (Das Foto entstand übrigens nicht auf unser Betreiben, sondern auf das der beiden Tänzer!)

Der Heimweg konfrontiert uns dann mit der nächsten klassischen Entscheidung à la Odyssee: Skylla oder Charybdis? Unser Tuktuk steht an der Ampel; ein Straßenkind kommt angerannt und will uns Rosen verkaufen. Die übliche Vorgehensweise dabei: die Blume wird uns in den Schoß geschmissen, das Kind verschwindet und wenn man die Rose nicht schnell genug aus der Rikscha wieder hinauswirft, dann kommt es zurück und verlangt mit lautstarkem Gezeter Rupien. Aber es kommt ohnehin zurück, merkt, dass wir den Rosen-Trick schon kennen. Fängt an zu betteln, will unsere Füße berühren, sogar küssen. Als es merkt, dass wir auch schon an den leidenden Tonfall gewöhnt sind, wird es still, verstummt vollkommen, lehnt sich über die Brüstung des Tuktuks und legt seinen Kopf auf meinen Oberschenkel und lässt sich auch durch die wütenden Bemerkungen unseres Fahrers nicht vertreiben. Es reagiert auf nichts, es hängt nur wie Sack Kartoffeln, ein winziger, unterernährter Sack Kartoffeln in unsere Rikscha hinein, die Stirn auf meinem Oberschenkel, die geöffnete Handfläche daneben. In diesem Augenblick würde ich ihm gerne über die Haare streicheln. Würde ihm sehr gerne irgendwie begreiflich machen, dass es mir unendlich Leid tut, dass ich keine seiner Rosen kaufe.Aber wir alle in der Rikscha wissen, dass dem Kind keine zwei Minuten später das Geld durch den „Organisator“ wieder abgenommen wird – demjenigen, der die Straßenkinder jeden Tag mit Rosen und Luftballons losschickt, nur um ihnen den Großteil des Erbettelten am Abend wieder abzunehmen. Wenn sie großes Glück haben, bekommen sie dafür eine kleine Mahlzeit. Wenn sie nur Glück haben, werden sie nicht verprügelt; so formuliert es wenigstens eine indische Kommilitonin.

Also Skylla oder Charybdis? Gebe ich das Geld und unterstütze damit einen Teufelskreis, dem letztendlich das Kind als erstes zum Opfer fallen wird? Oder muss ich es aushalten, den kleinen Kopf auf meinem Bein zu spüren, den winzigen Hände und die dürren Arme zu sehen und trotzdem ungerührt geradeaus zu starren? Ich entscheide mich für Skylla und starre weiter gerade aus. Die Ampel springt auf grün, das Tuktuk knattert laut hupend los, sodass dem Kind gar nichts anderes übrig bleibt, als loszulassen.

Meine Mitbewohnerinnen steigen schon früher aus dem Tuktuk, sie wollen noch einkaufen gehen. Ich bleibe sitzen, fahre über den grünen Campus der JNU, der in der Dunkelheit rauscht und zirpt. Wir überholen einen Solidaritäts-Marsch der demokratischen Studentenpartei, der auf die Ausgrenzung der Dalits, der Unberührbaren, aufmerksam machen will, der die Abschaffung des Kastensystems aus den Köpfen der Menschen fordert.

Mir kommt der Gedanke, dass womöglich gar nicht ich Odysseus bin. Vielleicht ist es Indien selbst. Das nach den Kämpfen des Kolonialismus, der Jahrhunderte andauernden Unterdrückung, im Bewusstswerden der Unabhängigkeit den Weg nachhause sucht. Aber wo ist das? Ich glaube, nicht in der Vergangenheit, nicht in den Traumbildern, die ich heute vor dem Indian Gate gesehen habe. Ich schaue auf die Menge, an der ich vorbeifahre, sehe die Leidenschaft, sehe die Wut und denke, dass auch diese Menschen nicht daran glauben. Wohin gehen diese Menschen?, frage ich mich.

Auf einmal fängt der Tuktuk-Fahrer an, etwas vor sich hinzumurmeln. Ich glaube zuerst, dass er versucht mit mir zu sprechen. Erst nach ein paar Augenblicken verstehe ich, dass er mit sich selbst spricht, dass er etwas rezitiert. Und dann fängt er leise an zu singen. Ich kenne das Lied; es ist ein alter Hit aus einem Bollywood Film. Humko humise chura lo – Komm und beraube mich meiner selbst, singt er. Und irgendwie ist das für mich, wenigstens an diesem Abend, Antwort genug.

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