Ich bin ein Prothesengott

Im ersten Mastersemester hatten wir begleitend zur Vorlesung ein Tutorium. Jede Woche standen andere Texte auf dem Programm und als Einstieg hat jeweils einer von uns Studenten einen „Wichtel“ mitgebracht. Dabei handelt es sich lediglich um etwas, das wir mit dem zu besprechenden Text in Verbindung gebracht haben und zur Veranschaulichung den anderen vorstellten. Dabei kamen die verschiedensten Wichtel zustande: über Instagram-Bilder zu Kreuzketten war alles Mögliche dabei. Mein Wichtel war ein Navi.

Warum ein Navi? Weil Freud davon gesprochen hat, dass der Mensch ein Prothesengott ist.

„Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“
(Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur)

Diesen Gedanken habe ich mit dem Medientheoretiker Marshall McLuhan noch weitergedacht. Diese Prothesen, die „Extensions of Man“, womit Medien in einem weiten Sinne gemeint sind, erweitern jedoch nicht nur die menschlichen Sinne, sondern führen auch zu sogenannten Amputationen. Und genau hier hat mein Wichtel extrem vereinfachend eingesetzt:
Wenn ich mit dem Auto fahre, ist mein Navi fast immer mein Begleiter. Dies gilt auch für bekannte Strecken – falls mal eine Straße gesperrt ist oder ich in Gedanken versunken eine Ausfahrt verpassen würde. Bin ich dann jedoch darauf angewiesen, ohne Navi unbekannte Strecken zu fahren, bin ich ziemlich überfordert, mein Orientierungssinn hat sich nach außen in das Medium Navi verlagert und ist im Gegenzug in mir verkümmert. Oh Rousseau, was für einen wunderbaren Orientierungssinn hatte doch der Urmensch!

Ausgerechnet in den USA sollte sich diese These beweisen.
Bevor die Kurse in Berkeley beginnen, habe ich einige Tage an der Ostküste verbracht und meine Freundin aus der High School, die nun in Pennsylvania lebt, besucht. Da sie jedoch arbeiten musste und nicht immer Zeit hatte, mir die Umgebung zu zeigen und Unternehmungen zu starten, lieh sie mir ihr Auto, sodass ich damit nach Washington D.C. fahren konnte. Heutzutage ist so etwas kein Problem: auf meinem Handy ist eine GPS-App installiert, die es mir auch ohne Internet und Google Maps erlaubt, an das gewünschte Ziel zu reisen. Ich musste mir also zuvor weder Ausfahrt- noch Highway-Nummerierungen raus schreiben, ja nicht einmal wirklich den Weg anschauen. Und so bin ich, ganz das Kind meiner Zeit, der Technik voll vertrauend losgefahren…bis mein Handy abgestürzt ist und sich die App nach dem Neustart des Telefons im andauernden Ladezustand befand.

Washington DC_1
Keine Direktverbindung: Hinweg

Wie nun also von State College (der Name der Stadt, die sich entwickelte, nachdem dort die Universität Penn State gegründet wurde) nach Washington D.C. fahren? Das konnte doch nicht so schwierig sein. Also folgte ich erst einmal den Highway-Schildern: oben steht immer in Blockbuchstaben die Himmelsrichtung, in die man fährt. So grob bekam ich den Weg dann auch noch hin: erst einmal östlich halten, irgendwann südlich fahren. Harrisburg, die Hauptstadt Pennsylvanias kannte ich schon von meiner Amtrak-Reise aus New York: noch ein Orientierungspunkt und zumindest einer, der ausgeschildert war. Als ich schließlich in Harrisburg war, hörte die Orientierung jedoch auf, nichts Bekanntes umgab mich mehr und eine verzweifelte Stimme in mir fragte nicht nur ständig, was ich eigentlich mache, sondern erinnerte mich auch beständig an die Worte meines Papas, der mich überreden wollte doch ein Navi mitzunehmen. Papas haben eben doch Recht. Einige Lösungsversuche schlugen fehl: Roadmaps gibt es auch an keiner Tankstelle mehr zu kaufen; die Leute, die ich nach dem Weg nach Washington D.C. fragte, blickten sich eher nach einer versteckten Kamera um, als mir weiterzuhelfen. Doch da war ja die Stimme, die mich an die Worte meines Vaters erinnerte: Navi. Das war die Lösung, ich musste mir einfach eines kaufen. Also neue Strategie: nach einem Walmart fragen. Keine versteckte Kamera mehr: Wegbeschreibungen! Diese führten mich auf einen Highway Richtung Süden und eine schnelle (naja, so schnell wie man in den USA eben auf dem Highway fahren darf) Entscheidung musste getroffen werden: nach Süden fahren oder den etwas komplizierten Anweisungen zur Mall folgen? Ich fuhr nach Süden.

Washington DC_2
Rückweg mit Prothesen-Navi

Und so ging es weiter, immer an Orten, Namen und Schildern vorbei, die ich nicht kannte und die leider nie das gewünschte Ziel anzeigten. Immer nur food – lodging – gas am nächsten exit. Schließlich musste ich wieder einen Entschluss fassen und fuhr an einer Ausfahrt ab. Wie verzweifelt ich war, merkte ich, als ich in einem Holiday Inn am Front Desk stand und bei meinen Worten, dass ich kein Zimmer bräuchte, dafür umso dringender Hilfe, meine Stimme brach. Der gemütliche Mann am Tresen, der alle Anrufer freudig mit „It’s a beautiful day at the Holiday Inn“ begrüßte, half mir sofort weiter und druckte mir die Wegbeschreibung zum Ziel aus. Und ich bekam nicht nur diese, sondern auch die Antwort, dass nur zwei Blöcke weiter ein Walmart sei. Dort habe ich mir ein Navi gekauft und bin glücklich weitergefahren. Auf Schilder habe ich weniger geachtet, war aber insbesondere auf dem Riesenhighway vor Washington sehr froh über die beruhigend monotone Computerstimme mit mir im Auto. Meine Prothese funktionierte und führte mich ans Ziel. Wie der Mann im Holiday Inn meinte: es gibt immer eine Lösung. Meine war auf meinen Papa zu hören und meine verlorene Prothese wiederzufinden. Übrigens, das Navi habe ich in State College dann wieder im Walmart zurückgegeben – wozu brauche ich ohne Auto auch ein Navi, habe ich schließlich meinem Papa bereits zu Hause gesagt.

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