Die erste obdachlose Person in der Bay Area traf ich, da hatte ich den Flughafen keine zehn Minuten verlassen. Es saß im BART, der U-Bahn der Bay Area, ein älterer Mann mit einigen Tüten stieg ein und fuhr mit in Richtung Zentrum. Eine alltäglich Großstadtszene und doch ist das Thema Obdachlosigkeit in der Bay auf spezielle Weise präsent und brisant, wie ich im Laufe der nächsten Monate immer wieder erleben musste. Die Region steckt seit Jahren in einer Krise der Obdachlosigkeit, die von der Corona Pandemie noch verschlimmert wurde. Die letzte große Zählung der Obdachlosen fand allerdings vor der Pandemie, 2019 statt. Die aktuelle Situation ist also unklar und die folgenden Zahlenspiele können nur einen ungefähren Eindruck auf schlechter Datenlage vermitteln.
Neue Zählungen in San Francisco haben ergeben, dass dort gerade zwischen 8.000- 19.000 Menschen „outside of stable housing“ [1] leben, die Zahlen im Rest der Bay mögen stark variieren. San Francisco hat eine Einwohner*innenzahl von ca. 900.000 (Stand 2020). Gehen wir vom Mittelwert der erwähnten Zählungen (12.500) aus, dann haben in San Francisco gerade 1,5% der Bevölkerung kein festes Zuhause. Von diesen Menschen besaßen (Bay-Area-weit) 2019 nur 33 % eine Notfallunterkunft [1], der Rest lebte unsheltered/ungeschützt. Das heißt in Zelten, selbstgezimmerten Hütten, in alten Autos oder einfach auf dem Boden.
Zum Vergleich: In Konstanz wären 1,5 % der Gesamtbevölkerung (84.000) ca. 1.260 Menschen ohne festen Wohnsitz, davon ca. 840 ohne Notfallunterkunft. Stellt man sich also 840 Menschen vor, die dauerhaft obdachlos in der Konstanzer Innenstadt wohnen, so bekommt man einen ungefähren Eindruck der Notstände, die gerade in San Francisco und dem Rest der Bay vorherrschen. Nun ist Konstanz eine Kleinstadt, aber auch der Vergleich mit z.B. Berlin, in dem – das hat mich erschreckt – von bis zu 40.000 Wohnungslosen ausgegangen wird [2], leben vergleichsweise weniger Menschen ganz ohne Obdach auf der Straße, nämlich bis zu 6.000. Das entspricht 0,016% der Gesamtbevölkerung (von ca. 3.600.000), also deutlich geringer als die 1,5 % in San Francisco. Das ist natürlich auch sehr schlimm und sollte mehr thematisiert werden. Vor allem empörend finde ich, dass nicht einmal richtig Erhebungen durchgeführt werden, um die Anzahl an Obdachlosen in Deutschland zu erfassen [3]. Doch für diesen Text, zurück zur Bay.
Noch nirgends habe ich Obdachlosigkeit so offensichtlich und entsetzlich wahrgenommen wie in der Bay. Vor dem Hostel, in dem ich die ersten zwei Wochen meines Aufenthalts untergekommen bin, lebte ein alter Mann auf ein paar Stufen, als Unterlage lediglich ein Teppich. Unter der Brücke des Freeway neben meiner Haustür drückten sich Zelte und Bretterverschläge gegen die Wand. Ebenso ist jeder zentrale Park, der nicht superreichen Gegenden von solchen Zeltstädten belegt. Überall dort ist Müll und Schmutz. Wenn ich zu Fuß in meiner Nachbarschaft unterwegs war oder die Bahn nahm, konnte ich mir sicher sein nach etwas Change/Wechselgeld gefragt zu werden. Es ist ein Elend, das aufs Gemüt schlägt. Die Menschen sind oft verwahrlost, wirken hilf- und hoffnungslos. Manche Bevölkerungsgruppen sind mehr betroffen als andere. So sind BIPoC in den USA im Schnitt viel ärmer als Weiße und somit auch mehr durch Obdachlosigkeit gefährdet [4]. Trotzdem leben Menschen jeglicher Bevölkerungsgruppe in der Bay auf der Straße. Ist man das nicht gewohnt, deprimiert es einen sehr. Genauso erschreckend ist allerdings auch die Abstumpfung. Mit der Zeit werden die Zustände gewohnt, ganz normal wurde es für mich aber nie. Ich habe mich mit einigen Obdachlosen unterhalten, manche immer wieder an den gleichen Stellen getroffen und einige Reportagen und Artikel zum Thema gelesen (z.B. [5], [6] und [7]) gelesen. Mit manchen hatte ich gute und witzige Konversationen, mit anderen war es schwieriger. Schlechte Erfahrungen habe ich keine gemacht, was in den USA auch wichtig zu betonen ist. Von mancher Seite werden Obdachlose hier stigmatisiert und mit Gefahr assoziiert. Das kann ich nicht bestätigen, allerdings möchte ich die Situationen auch nicht schön reden. Das Leben auf der Straße in den USA ist sicher gefährlich und diese Gefahrenlage ist gegendert und racialised. Für mich war das alles manchmal schwer zu begreifen und bei vielem maße ich mir kein Urteil zu (z.B. wie gefährlich ist die U-Bahn?). Ich empfinde es inzwischen aber als äußerst wichtig sich der Persönlichkeiten hinter den Zahlen und Diskussionen bewusst zu sein. Alle diese Menschen haben eine Geschichte, Verwandte und Freund*innen. Sie sind entweder zu alt, zu jung, zu krank, im Endeffekt zu Mensch, um auf der Straße zu leben.
Doch wie kommt es zu dieser Krise? Die Gründe sind vielfältig, aber besonders ins Auge fallen die hohen Wohnkosten in ganz Kalifornien, in dem 12% der US-Bevölkerung und 25% der US-amerikanischen Obdachlosen leben[8]. Die Menschen verlieren ihre Wohnung durch Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, Zwangsräumungen, Familienstreitigkeiten oder psychischen Erkrankungen. Ein sich hartnäckig haltender Mythos erklärt die Obdachlosigkeit in der Bay als Magnet-Effekt. Odachlose kämen aus dem ganzen Land wegen der besseren sozialen Versorgung und des guten Wetters in die Bay. Das stimmt allerdings nur zum Teil, insofern ein Großteil der Menschen erst in der Bay obdachlos werden und der Magnet-Effekt hauptsächlich für Jugendliche gilt, die aus anderen Bundesstaaten vom liberalen Klima der Bay angezogen werden [5]. Erschwert wird die Obdachlosigkeitsproblematik der Bay durch Sucht und psychische Erkrankungen. 2019 kämpften 39 % der Obdachlosen in San Francisco mit “psychiatric or emotional conditions” [7]. Ungefähr 40 % hatten Probleme mit Drogenmissbrauch. Die sogenannte „opioid epidemic“ [8] und Fentanyl-Krise befeuert dieses Problem in den letzten Jahren zusätzlich [9]. 2021 starben allein in San Francisco 650 Menschen an einer Überdosis. Läuft man tags oder nachts, ganz egal, durch den Mission District oder die Tenderloin in San Francisco – was durchaus normal ist, da die Mission ein hippes Ausgehviertel ist und die Tenderloin sehr zentral liegt -, begegnet man zwangsläufig dieser Krise: Menschen rauchen, spritzen und handeln harte Drogen, wie selbstverständlich auf den Bürgersteigen und in den Hauseingängen. Konsument*innen liegen leblos auf der Straße, die Passant*innen ziehen vorbei. Erst bei genauem Hinschauen entdeckt man die Hilfe, die Initiativen und städtischen Maßnahmen. Während die Stadtverwaltung teilweise hofft die Probleme durch mehr policing zu lösen [10], versuchen auch eine Bandbreite an NGOs sich um Unterkünfte und Hilfe zu kümmern [11]. Wo die Politik seit Jahren keine Lösungen zu finden scheint, springen viele zivile Organisationen mit ein. Die Anteilnahme der Bay-Bevölkerung und deren Engagement ist vielleicht der einzige Lichtblick in all der Misere. Viele Menschen helfen beim Bau von Unterkünften in ihrer Nachbarschaft oder bei Veranstaltungen für Obdachlose. Dennoch bleibt es zu wenig, sodass das Elend und die Ausweglosigkeit der Obdachlosen einem in den Stadtzentren der Bay auf Schritt und Tritt begegnet.
Mich hat das oft traurig und fassungslos gemacht. Ein schöner Abend auf einer Kulturveranstaltung oder in einem Restaurant verliert schnell an Glanz, wenn man auf dem Heimweg an zahllosen, in der Kälte liegenden Körpern vorbeiläuft. Eine ganze Gesellschaft verliert an Glanz. Was dabei so unglaublich erscheint, ist auf der anderen Seite der enorme Wohlstand der Bay. Hier ist das Silikon-Valley mit seinen Tech-Milliardären, hier sind die Eliteuniversitäten, hier ist die Industrie und der Tourismus. Eigentlich sollte es mehr als genug Mittel geben, um dieser Krise beizukommen, aber es klappt seit Jahren nicht. Nach einer Umfrage 2019 zeigt sich immerhin, dass die County Councils das Problem der Obdachlosigkeit, nach den Mietpreisen und der Verkehrssituation, zu einem der drängendsten der Region zählen [11]. Allen scheint klar, wie schlimm es ist, aber wie es anders werden soll, ist kaum vorstellbar. Nicht weil man nicht weiß, wie effektive Maßnahmen aussehen könnten, sondern weil unrealistisch erscheint, dass diese Maßnahmen von der Politik umgesetzt werden. Weil, so denke ich wie viele in der Bay, die Obdachlosigkeit ein Symptom eines größeren, strukturelleren Problems ist. Ein Freund von mir hat die Zustände in den US-amerikanischen Großstädten als „Kapitalismus im Brennglas“ bezeichnet, das finde ich sehr zutreffend.