Ich sitze nach fünfeinhalb Monaten im Flieger von Berkeley zurück nach Deutschland. Ich bin zufrieden mit meiner Zeit in Berkeley bzw. der San Francisco Bay. Kurz nur die Bay genannt. So ganz verarbeitet habe ich mein Auslandssemester natürlich noch nicht, eher im Gegenteil:
Noch bin ich gefühlsmäßig ganz im Frühling Kaliforniens, zwischen blühenden Magnolien, Zitronenbäumen, Kolibris und 18 C Grad bei blauem Himmel. Tatsächlich befinde ich mich gerade über Quebec in 11.277m Höhe, das Licht ist aus, um mich herum starten die Leute ihren dritten Film oder versuchen tapfer gegen den Jetleg anzuschlafen.
Am Zielflughafen München ist es 4 Uhr morgens, in Berkeley ist es 7 Uhr abends. Ich bin also gerade irgendwo zwischen Zeit und Raum bzw. darüber. Wie ich hoffe, genau das richtige Setting, um endlich einen Blogeintrag zu verfassen. Ich habe schon öfter versucht etwas zu Word zu bringen und habe einige Stichpunkte zu unterschiedlichen Themen gesammelt. Aber irgendwie konnte ich nichts davon zu einem richtigen Text verarbeiten. Einerseits war meine Zeit oft rar, andererseits erschienen mir die Themen, zu denen ich gern gebloggt hätte, bei genauerem Nachdenken ziemlich kompliziert. Und so flog mein Semester dahin, ohne Blogeinträge, aber mit einer stetig wachsenden Zahl an Stichpunkten. Aus diesen Stichpunkten haben sich Themen herauskristallisiert, die mich im letzten halben Jahr beschäftigt haben, die diskutabel waren und die mir als charakteristisch für die Bay erscheinen. Der Übersicht halber werde ich diese Themen in sechs Posts hochladen, obwohl ich diese am Stück geschrieben habe und sich gegenseitig bedingen.
Die Bay Area
Doch erstmal habe ich das Gefühl, kurz den Ort des Geschehens vorstellen zu müssen. Denn das German Department und die UC Berkeley mag als Partner unseres Studiengangs manchen schon ein Begriff sein, allerdings spielte sich mein Alltag, wie der vieler Golden Bears (Menschen an der UC Berkeley), bei weitem nicht nur auf dem Campus und in Berkeley ab. Ich drösel die Örtlichkeiten hier mal ein bisschen auf, weil mir diese vor meinem Aufenthalt hier selbst nicht ganz klar waren und diese Metropolregion mein Auslandssemesters und meinen Eindruck von den USA maßgeblich bestimmte.
Der UC Berkeley Campus befindet sich mitten in der Stadt Berkeley. Berkeley ist Teil der Bay Area. Die Bay Area ist die Region um die San Francisco Bay und besteht aus einer Aneinanderreihung von verschiedenen Städten. Wo genau die Grenzen zwischen diesen Städten liegen ist ohne Stadtplan schwer zu sagen, die Übergänge sind hier fließend.
Es ist ein bisschen wie mit Konstanz und Kreuzlingen: Städte, die um eine Bucht organisiert sind und in verschiedenen Stadteilen unterschiedlichste Qualitäten bieten. Im Seeburgpark gibt´s Pommes und Badespaß, in der Niederburg Theater, Wein und Döner und im Industriegebiet Handwerk und Diskos.. In der Bay ist es auch so, ohne internationale Grenze und trotzdem mit krasseren Gegensätzen auf einer größeren Skala. Hier wohnen über sieben Millionen Menschen in neun Counties. In dieser Region findet sich Allerlei, von dem man in Deutschland vielleicht schon gehört hat: San Francisco, das Napa-Valley, die Stanford University, das Silikon-Valley, die Golden Gate Bridge, Alcatraz, die UC Berkeley, Pixar, die San Francisco Pride und ganz viel Geschichte. Es ist das Land der Ohlone, hier wurden die Black Panters gegründet, hierhin reisten die Beats, hier versammelten sich die Hippies und schließlich die Techies. Metallica, Janis Joplin, CCR, Green Day, MC Hammer und Tupac sind nur einige der musikalischen Berühmtheiten aus der Bay. Für das Auslandssemester reist man nicht nur nach Berkeley, man reist in die Bay. Zum Ausgehen, für Kultur und Museen fuhr ich nach San Francisco (in der Bay nur „The City“ genannt), zum Football-Derby ging´s nach Stanford, spazieren ging ich in den Oakland Hills, usw .
Klar, nach Semesterende verließ ich die Bay auch, da war Sightseeing-technisch dann kein Halten mehr: Ich fuhr in den Yosemite Park, nach L.A., machte einen Roadtrip entlang des Highway 1 zum Grand Canyon und durchstreifte die Redwoods im Norden. Allerdings komplementieren meine Erfahrungen auf diesen Reisen nur das, was ich in den folgenden Posts schreiben möchte. Denn, das betonen die Menschen hier gerne, die Bay ist nicht mit dem Rest der USA zu vergleichen. Und doch ist die Bay essentieller Teil der USA. Sie ist kulturelles Zentrum, Gegenentwurf, Sinnbild, Wirtschaftsfaktor und Wohnort.
Ich reiste in die USA mit dem vielen sicherlich bekannten Gefühl, dieses Land schon relativ gut zu kennen, obwohl ich vorher noch nie hier-gewesen bin. Ich höre schon immer US-amerikanische Musik, schaue Hollywoodfilme und verfolge die US-amerikanische Politik. Doch oft entpuppte sich mein Bild der USA als unzutreffendes Stereotyp. Die meisten US-Amerikaner*innen, die ich getroffen habe, passten nur teilweise in meine USA-Klischees oder brachen bewusst mit diesen. Dennoch erschien vieles bereits vertraut, aus Film und Musik, Nachrichten und Youtube. Wahrscheinlich hat genau das mir meinen Blogeintrag so erschwert: Eindeutige Aussagen sind hier (solange mich die mitteleuropäische Zeitzone noch nicht hat, bleibe ich übrigens gefühlt und textlich „hier“, in Kalifornien!) besonders schwer zu treffen. Klischees sind zutreffend und nicht zutreffend oder sie kombinieren sich anders als erwartet. Eine überarbeitete Naturwissenschaftlerin einer Eliteuniversität singt im katholistischen Gottesdienst, den ich je besucht habe. Rüstige Rentner*innen die montags Party machen. Riesige Autos, dazwischen Radfahrer*innen, die sich für bessere Radwege einsetzen. Der Bioladen, der Amazon gehört. Stromausfall im Technologie-Mekka… Die USA haben mich oft überrascht.
Was sind also die USA? Oder was zeichnet die US-amerikanische Kultur aus? Das sind Fragen, deren Antworten man sich nur ahnungsvoll nähern kann. So habe ich in der Bay und der weiteren Umgebung die konservativsten, aber auch die offensten Menschen getroffen, die mir je begegnet sind. Diese Diversität macht alles Nachdenken über dieses Land komplex. In dieser Komplexität findet sich Fabelhaftes, Bewundernswertes, aber auch viel Problematisches und Irrsinniges. Über diese Komplexität zu schreiben ist schwierig und mir kam es immer so vor, als bräuchte es für die Themen, die mich hier beschäftigten, eine umfassende Recherche und Ausarbeitung. Nun könnte man sagen, „die Welt ist doch überall komplex“, aber in den USA war diese Komplexität für mich eben noch ein bisschen doller als z.B. in Deutschland. Ich will hier aber keine Hausarbeit schreiben, sondern eigentlich frei von der Leber weg losbloggen. Mal schauen, wie das klappt. Es sei deshalb an dieser Stelle gewarnt, dass ich die folgenden Themen nicht in guter akademischer Manier recherchiert oder ausgearbeitet habe. Die folgenden Texte basieren eher auf Gesprächen mit meinen Kommiliton*innen, Mitbewohner*innen und Freund*innen und den Themen, die in diesen immer wieder auftauchten. Themen, die nie zu Ende diskutiert sind, die immer wieder aufkommen oder besonders ergiebig und faszinierend scheinen.
Nachtrag: Inzwischen ist mein Flieger längst gelandet und diese Texte werden gemütlich aus meinem sehnlichst vermissten WG-Zimmer in Konstanz fertiggeschrieben.