Ich bin gerade in diesem Land. Eigentlich hätte ich vor einem Jahr mein Auslandssemester antreten sollen. Eigentlich hätte ich damals nach Chile reisen sollen. Eigentlich. Diese vielen Eigentlichs kennen wir vermutlich alle Dank der Pandemie.
Jetzt bin ich also in dem so viel besungenen und bedichteten Land der blühenden Zitronen, des dunklen Laubs der Bäume mit den gold glühenden Orangen und der vielen Marmorbilder.
Ich kenne dieses Land schon sehr lange — mein Leben lang, denn mein Papa kommt von dort. Meine Großeltern sind in den sechziger Jahren als GastarbeiterInnen nach Deutschland gekommen. Jetzt leben sie zwischen den Welten. Sie haben von dem hart erarbeiteten Geld ein Haus in Süditalien gebaut. Ihre Kinder und Enkelkinder leben aber alle in Deutschland.
Ich bin in Rom und ich frage mich einmal mehr, inwiefern diese Wurzeln sich in mir selbst niederschlagen und ob ich nun Teil der Blütenpracht bin oder nicht. Dabei umgibt mich Italienischsein doch schon mein Leben lang. Ich bin in den italienischen Restaurants meiner Eltern mit all den italienischen Mitarbeiter:innen, meiner italienischen Tante, meinem italienischen Onkel und den italienischen Cousins meines Vaters in Feucht groß geworden.
Es gibt nur einen großen Haken: meine fehlenden Sprachkenntnisse. Meine Freund:innen und früher eher fremde Menschen aus akademischen Familien, Erwachsene, ganz besonders Frauen, die einen VHS Sprachkurs besuchen, verfielen und verfallen auch jetzt noch in einen begeisterten Singsang, sobald ich ihnen von meiner italienischen Familie erzähle. Ihre Stimme geht hoch und sie sagen “Oh, wie toll! Dann sprichst du ja Italienisch!” Sie erzählen mir ungefragt von irgendwelchen wichtigen Philosophen, Künstlern oder großartigen Orten und Museen, die ich als Italienerin natürlich kenne! Ich enttäusche jedesmal. Ich kannte, bis ich selbst erwachsen wurde, keinen einzigen italienischen Philosophen oder Künstler, von dem ich nicht in der deutschen Schule gehört habe. Ob echte italienische Kinder damals so viel mehr dieser Namen und Plätze hätten einordnen können, kann ich leider nicht beurteilen.
Mit Sicherheit kann ich aber sagen, dass wir alle, die italienischen Kinder und ich, Padre Pio kennen. Wir kennen zumindest sein Abbild — ein alter Mönch, der entweder erhellt in die Kamera lächelt oder seine Hände wie das passende Emoji zum Beten zusammenfaltet und andächtig den Blick senkt. Ihn umgibt grundsätzlich ein leichter Lichtkranz und alle Abbildungen sehen aus, als hätten sie einen Instagram-Filter zu viel übergestülpt bekommen. Ich begegne ihm seit meiner Geburt überall. Im Auto auf dem Armaturenbrett, als Schlüsselanhänger, in Geldbeuteln, an Hauseingängen, auf Toiletten, im Wohnzimmer, in der Küche, als große Plakate an Hauswänden — mal als zerknitterte alte Fotografie, mal als einfacher DIN A4 Ausdruck oder Plakat, mal aufwändig gerahmt auf dem Kaminsims und manchmal auch sorgfältig aufgehängt.
Ich habe oft nachgefragt was er denn nun Bedeutendes vollbracht habe: “Das ist Padre Pio! Ein wichtiger heiliger Mann!” — mit mehr Information ist in meiner Familie nicht zu rechnen. Googelt man ihn, erfährt man, dass er tatsächlich 2002 heilig gesprochen wurde. Er hatte wohl sogenannte Stigmata, was unerklärliche Wunden am lebenden Körper sind, die als Wundmale Christi gedeutet werden. Er ist Ende der 60er Jahre verstorben. Das Internetlexikon verrät außerdem, das der Kult um ihn wohl schon 1919 entstand und seine Person aber auch kritisch betrachtet wird. Für meine Familie steht er über allem und ist von aller Kritik befreit. Für mich ist er fremd und gleichzeitig vertraut.
So geht es mir mit Italien und meinen Italienischen Wurzeln generell. Ich bin mit ihnen ganz eng vertraut, sie machen einen großen Teil meines Lebens und meiner Identität aus und gleichzeitig ist mir alles fremd.
Die italophilen Akademiker:innen sind auch immer ganz enttäuscht und es ist jedesmal an mir mit einem Witz oder Lächeln die unangenehme Stille darüber, dass ich ja gar keine richtige Italienerin bin, zu überwinden.
Dabei ist es vermutlich viel italienischer eine Beziehung zu dem Abbild von Padre Pio zu haben, als zu verschiedensten touristischen Plätzen des Landes. Doch Padre Pio ist für die deutschen Akademiker:innen keine Referenz für Italien.
Bin ich also richtig italienisch und die Deutschen können es nur nicht erkennen? Ich bin vieles, ich bin das Kind eines Italieners, ich bin das Kind einer ehemaligen DDR-Bürgerin. Ich bin das Kind von GastronomInnen, ich bin das Kind von liebenden Eltern, ich bin große Schwester, ich bin Fränkin, ich bin Studentin, ich bin genauso deutsche Akademikerin. Was will ich also hier in meinem Auslandssemester in Rom? Ich will endlich die Italienerin werden, die sich all die deutschen Akademiker:innen so sehr wünschen! Vielleicht auch, die Ich mir als deutsche Akademikerin zu sein wünsche.
Ich will Italienisch sprechen, die Philosophen kennen und die Plätze und Museen besuchen, von denen mir mein Leben lang vorgeschwärmt wurde.
Mein bisheriges Italien beschränkt sich natürlich nicht auf Padre Pio, die beiden Restaurants meiner Eltern und der kalabrischen Diaspora in Nürnberg.
Ich kenne dieses Land seit dem ich auf der Welt bin. Oder besser: einen kleinen Ausschnitt im Nordosten von Kalabrien. Ich kenne den Garten meiner Nonna, in dem tatsächlich die Zitronen blühen und der Lorbeer wächst. Ich kenne die Gegend um Rossano, Corigliano und das Sila-Gebirge (Googelt es nicht, ihr erfahrt etwas über antike Ausgrabungen und die Mafia. Alles Dinge, die mein Kalabrien nicht annähernd abbilden). Ich kenne die steinigen Strände von Fabrizio und Schiavonea und den Sandstrand von Sibari. Ich kenne die Hühner meiner Nonna, meiner Großtanten und die Orangenplantagen. Ich kenne hier die Bars und Restaurants der Verwandten und ich kenne die große Hochzeitslocation. Das verbinde ich mit Italien — Hochzeiten, Taufen und Firmungen von Cousinen und Cousins meines Vaters. Immer nahe an der Todsünde der Völlerei aber vor allem alle zusammen an einem Ort.
Mein Italien wird jedes Jahr ein wenig größer, ich lese mehr, ich treffe Menschen und ich reise. Ich kenne Mailand, weil wir auch dort Verwandschaft haben, ich kenne Venedig, weil ich mich Dank Cornelia Funke in diese Stadt bereits als Kind verliebt habe, und ich kenne durch die Klassenfahrt mit dem Leistungskurs Geschichte die Toskana. Instagram hilft mir, mit meinen Groß-Groß-Cousinen Kontakt zu halten und einen Eindruck ihres Lebens zu erhaschen.
Und jetzt entdecke ich hier die Sprache, die Politik und die Kunst.
Dafür ist Rom der richtige Ort. Ich bin nah an den politischen Bewegungen und der Kunst kann ich hier nicht entkommen. Mir wird hier immer klarer, dass ich wie meine gesamte Familie zwischen den Welten lebe. Ich lebe mit Padre Pio und Goethe. Welche Rolle Dante und Michelangelo oder einfach nur italienische Popkultur spielen werden, kann ich nach meinem Semester in Rom vermutlich ein wenig besser einschätzen.
Ich bin nun über zwei Monate in Italien und seit etwas mehr als einem Monat in Rom. Ich habe bereits mehr gelernt als erwartet: zum Beispiel über meine Beziehung zu Regeln, der Bedeutung von behördlichen Stempeln und meinen Vater. Diese Beobachtung wird es aber erst in den nächsten Blog-Post schaffen. Bis dahin genieße ich, ganz Alman-Annette, einen Aperol Spritz und besuche die Architektur-Biennale in meinem geliebten Venedig.