Kurzgeschichten

15.09.18. Es ist nachts um 4, ich bin aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Es ist wieder so warm geworden, dass ein Leintuch als Decke auch in der Nacht ausreichend ist. Vor meinem Fenster zirpen die Grillen; den Autolärm der Straße höre ich nur aus der Ferne. Meine beiden Mitbewohnerinnen schlafen vermutlich, während meine Freunde in Deutschland schon den Tag starten.

Ich werde nun, statt aus den vielen einzelnen Gedankenfetzen der letzten Tage und Wochen einen kohärenten Text zu bauen, lieber die Einzelteile hier ausbreiten.

 

03.09.18: Orientierungswoche für Internationale Studierende und Erstsemester

Ich fühle mich in einer Beobachterrolle. Ich betrachte kritisch und distanziert eine Außenwelt, die ich bewerte… Ich muss meine Position endlich einmal in Frage zu stellen beginnen. Niemand ist nur Beobachter. Ich bin involviert. Meine Gedanken sind Wirklichkeit. Was ich denke und wie ich über meine Umgebung reflektiere bestimmt, wie mir meine Umwelt erscheint und was sie für eine Rolle in meinem Leben spielt.

Da ist erstmal eine Universität, die sich zumindest in den ersten Tagen nicht primär als Bildungsinstitution inszeniert, sondern als Komplettpaket für gerade aus der Schule kommende Jugendliche, für die der Uni ein Erziehungsauftrag obliegt. Hier gibt es medizinische Versorgung, eine verpflichtende Krankenversicherung so wie psychologische Betreuung. In manchen Wohnheimen kann man nicht kochen und ist auf den vollen Mealplan angewiesen, den die Uni zur Verfügung stellt. Es hätte einen Airport-Shuttle gegeben, um die Studierenden direkt vom Flughafen in ihre neuen Wohnheimszimmer zu chauffieren. Und am Moving-In-Day sind nicht nur meine Mitbewohnerinnen von der ganzen Großfamilie eingezogen worden, sondern der gesamte Campus. Nach der Verabschiedung hat es noch einmal geklopft und die Gurke wurde durch die Tür gereicht – die letzte Ergänzung für den Kühlschrank á la Familie-kauft-für-Studenten-Kind-im-livebetter-Wallmart ein.

Aber ich bin nicht nur Beobachter.

Morgens nach dem Aufstehen habe ich bereits durch meine App herausgefunden, wo und unter der Organisation welcher Studenten ich ein Frühstück abgreifen kann. Meistens besteht das aus einem Kaffee im Pappbecher und einem Muffin, es gibt aber auch Cereal all you can eat oder Pancake Breakfast. Nicht nur mir geht es so, dass meine Küche noch leer ist. Ich besitze ein Messer, eine Gabel, einen Teller. Meine Mitbewohnerin wurde von ihrer Familie eingezogen – sie hat auch Töpfe, eine Mikrowelle, einen Toaster. Aber da ist es wieder, das wertende, distanzierte. Auch ich habe gerne Hilfe von meiner Familie, wenn ich eine neue Wohnung beziehe. Gerade habe ich sie nicht, und das fällt mir unter diesen vielen Studierenden immer wieder auf, deren Kühlschränke und Küchen von ihren Eltern und Großeltern gefüllt werden.

Das Mittagsprogramm besteht zum Beispiel aus Subs and Clubs. Ich bin dem Buchclub beitreten, nur ein bisschen, weil ich das Buch “Brothers” geschenkt bekommen wollte. Es ist auf Englisch; wir werden eine Lesung des Autors erhalten und über die Geschichte der beiden Brüder, die in Toronto aufwachsen, im Buchclub sprechen. Dazu gibt es Sandwiches und natürlich einen Softdrink – ich greife zur künstlich gesüßten Cola, um es nach dem zweiten Schluck wieder zu bereuen.

Nett sind sie alle hier, unglaublich nett. Gleich am ersten Tag haben wir einen persönlichen Shuttel mit dem Campus-Auto (sieht aus wie ein fahrbarer Rasenmäher) zu unseren Wohnungen bekommen, weil wir soviel Gepäck hatten. Wir durften uns am Pizza-Buffet bedienen. Wann habe ich das letzte Mal Essen gegessen, das ich mir selber zubereiten musste?

Auch die Sportanlage ist super ausgestattet. Ich bin gleich Squashen gegangen – für nur 3$ Schlägerleihgebühr. Anschließend saßen Charlotte und ich inmitten von jubelnden Fans auf der Tribüne des Footballstadions. Ich habe das Spiel noch nicht verstanden. Es hat Spaß gemacht, den akrobatischen Cheerleadern zuzuschauen. Und auch hier wieder der distanzierte, wertende Beobachter – die Männer spielen Football, die Mädels – bauchfrei, schlank und mit langen Haaren – tanzen, um die Männer anzufeuern. Imaginiert man weiter auf der Grundlage amerikanischer Highschoolfilme, so muss eines der Mädchen bestimmt in einen der Spieler schwer verliebt sein…  Wie bekomme ich diese wertende Distanz weg? Oder ist die Frage falsch gestellt? Ich darf Position beziehen. Ich bin in Süddeutschland sozialisiert. Ich bin nicht neutral, sondern schon ein 24 Jahre lange programmiertes Wesen, das hier in Guelph auf eine Umgebung trifft und diese reflektiert. Das ist okay. Aber ich will offen bleiben, verstehen, lernen. Nicht den Öko-Zeigefinger erheben wegen des vielen Plastiks und der ausbleibenden Mülltrennung, mich nicht erwachsener fühlen als die Erstsemester.

Und im Grunde ist es auch spannend hier. Ich war noch nie an einer kanadischen, US-amerikanisch anmutenden Universität. Und zugegeben – dieses ganze Programm, an dem ich mich bediene, das stellt tagtäglich jemand auf die Beine. Einmal ein Gryphon (so nennt sich ein exciteder Studierender der Uni in Guelph) kommt man aus der Aktivität vielleicht gar nicht mehr raus – die Uni fordert. 5-mal die Woche hat man Footballtraining, um am großen Spiel teilnehmen zu können. Daneben freiwilliges Arbeiten – um die neu ankommenden Erstsemesters oder auch internationalen Studierenden zu bespaßen; um sie nacheinander mit einem Schlag Ice-Cream zu versorgen oder in Bussen in die Stadt zu transportieren. Ist schon ein sehr aktiver Haufen hier. Und alles wird von jungen Leuten organisiert. Noch bin ich kaum Menschen über 30 begegnet. Die Organisation übernehmen wirklich fast vollkommen die jungen Studierenden selbst. Sie stellen auch inhaltlich das Programm auf die Beine.

Auch gibt es hier auf dem Campus eine komplette gesundheitliche Versorgung, darunter psychologische Hilfe, Ärzte und sogar Zahnärzte. Bei zu viel Stress kann man sich an den Masseur wenden. Hier ist man weniger auf sich allein gestellt. Das hat auch Vorteile! Und ich bin ein Profiteur davon, ein großer Nutznießer. Vielleicht ist das ganze doch spannend. Gerade wegen dieser Mischung aus „kultureller Nähe zum Westen“ – bin ich hier nicht einfach noch in Europa, wie Katrin Rögge sagte? Prag habe sie als sehr europäisch empfunden? –  Ich habe also keinen sogenannten Kulturschock (Neuschock). Aber manche Dinge laufen eben doch anders. In dieser ersten Woche stelle ich zum Beispiel Unterschiede im universitären System fest. In Deutschland ist man meiner Meinung nach viel mehr auf sich allein gestellt. Die Uni geht von sich selbst organisierenden Studierenden aus, die eben entweder zurechtkommen, oder halt nicht. Die Uni hier geht von Highschool Absolventen aus, die noch nicht genug er-/gelebt haben, um gleich alleine klar zu kommen.

Ich gebe mir also Mühe, diese Unterschiede einfach erstmal wahrzunehmen und sie nicht gleich be- und abzuwerten!

 

08.09.18: Niagara Fälle

Niagara Fälle: Touristischer Blick auf zivilisierte Wildnis. Abfertigen der Touristen. Verliert mein Blick an Bedeutung, da ihn neben mir 200 und vor und nach mir Millionen von Menschen haben, hatten und haben werden?

Am glücklichsten in meinem Leben war ich selten an Sightseeing-spots – warum mache ich es denn?

Um den Weg der Gedanken in meinem Kopf in von Fremden verständliche Sätze zu verstauen: Die Niagara-Fälle sind definitiv beeindruckend. Auch die Bootstour, auf der man klatschnass wird, ist den Preis wert und erinnert an eine Wasserbahn im Europapark. Aber der quasi ungezähmt-wilde Wasserfall wird doch ganz schön zivilisiert betrachtet. Am Rande habe ich gehört, dass Sie die Fälle einmal mit dem darüber liegenden Stauwerk stillgelegt haben, um die Wände abzustützen und der schnell voranschreitenden Erosion des Wasserfalls entgegenzuwirken…

Siehe auch: https://www.geo.de/natur/naturwunder-erde/15638-rtkl-usa-als-die-niagarafaelle-einmal-trockengelegt-wurden (15.05.18)

09.09.18

Ich bin die eigentliche Umweltsünderin – wer reist, der hinterlässt Müll. Wer an einem Ort bleibt, braucht auch keine Plastikbecher.

Irre finde ich auch diesen Aspekt des Gleichen im Zuge der „Globalisierung“: Ein Starbucks, ein Hortons-Café, ein MacDonalds, ein Subways, ein Walmart – die Beliebigkeit des Ortes, weil es immer um den gleichen Konsum geht…

 

14.09.18

Wenn ich nach meinem Namen gefragt werde (und das kommt derzeit, in der noch-Kennenlernphase, sehr häufig vor), spreche ich meinen Namen immer deutsch aus. Ich bin Clara. Darauf ist die Reaktion meist ähnlich. Mein Gegenüber wiederholt fragend meinen Namen in der englischen Aussprache: [ˈklɛ(ə)rə] ? (Das habe ich aus einem Wörterbuch kopiert, weil ich das rollende R mit Clära tatschlich nicht adäquat darstellen kann…). Im französischen entspricht mein Name vielleicht ‚Claire‘, wobei es den Namen Clara dort auch gibt. Zwischen diesen drei Namen sind doch, zumindest linguistisch betrachtet, große Unterschiede! Das sind sehr unterschiedliche Phoneme und ein verschiedenartiger Klang. Natürlich habe ich kein Problem damit, wenn mein Name englisch ausgesprochen wird, aber ich werde mich weiterhin mit der deutschen Aussprache vorstellen. Mit diesem Namen bin ich nun mal aufgewachsen. Wie könnten die verschiedenen Aussprachen eines Namens auch das Gleiche bedeuten, gerade wo doch ein Name so sehr zu mir gehört, der Klang? Woher die Annahme, man könne Dinge überhaupt übersetzen? Wörter bezeichnen vielleicht Ähnliches, beziehen sich auf das Gleiche, sind aber doch linguistisch betrachtet zwei völlig verschiedene Dinge…

 

15.09.18 Rückblick

Dieser Artikel klingt nicht nur positiv….und als wäre er von einer Person geschrieben, die sich doch nicht wirklich einlässt. Dieses Bild muss ich nachkorrigieren! Ich merke, dass ich meistens zum Schreiben komme, wenn ich nachdenklich bin und nicht einfach zufrieden. Und ich gestalte das von mir entstehende Bild beim Schreiben, konstruiere mich in einer für mich neuen Umwelt, die auch mich und die Wahrnehmung von mir selbst verändert…
Jedenfalls geht es mir hier gut. Neben Gedanken über zivilisierte Niagara Fälle und Müll habe ich auch einfach viele nette Menschen kennengelernt, koche viel und esse gut, wohne in einer gemütlichen Wohnung und lerne, nun auch in Seminaren. Bei alledem ist zudem Charlotte mein treuer Begleiter, das bekannte Gesicht inmitten meines neuen Umfelds. Und Spaß – den haben wir auch:)

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