“And it Hurts, I can’t be what Everyone wants or what Anyone Needs. And it Hurts I can’t Be what I want or what I Need, Because I’m not Enough, And I’ll never Be Wanted. Enough and I’m just so Tired.”
„Die wollen dich hier brechen“, schießt es mir blitzartig durch den Kopf, als ich diese Zeilen auf eine Klowand gekritzelt im Bullring der University of Guelph, einem netten Ort an dem man für ein angemessenes Entgelt sehr guten Kaffee bekommt, lese. Da war wohl jemand ziemlich verzweifelt. Vermasseltes Date? Vielleicht. Streit mit den Eltern? Eventuell. In einem Kurs an der University of Guelph durchgefallen? Höchstwahrscheinlich!
Ich habe tausend Dinge zu tun. Einen Blogeintrag zu schreiben steht auf der Prioritätenliste eigentlich ganz unten. Aber mir ist gerade so danach. Die Sessel in der weitläufigen Eingangshalle der Bibliothek sind einfach zu gemütlich, um wirklich konzentriert Texte lesen zu können. Dabei ist die Auswahl an zu Lesendem jetzt bereits schon erschlagend. Objektiv betrachtet scheint das bereits aufkommende Gefühl der Überforderung etwas übertrieben zu sein, da doch das Herbstsemester in Kanada gerade einmal eine Woche alt ist.
Von Berichten über den Fall der Berliner Mauer (Was ich ganz entzückend finde: Wörter und ganze Sätze wie „the Internationale“ oder „Deutschland einig Vaterland!“ in einem ansonsten in akademischem Englisch geschriebenen Text zu lesen mit dazugehörigen Übersetzungen. Irritierend war vorerst die Abkürzung GDR für „German Democratic Republic“ – uns besser bekannt als DDR.) bis hin zu einem vierhundertseitigen Roman über die Truth and Reconciliation Commission (TRC) in Südafrika ist alles dabei. Bisher habe ich vier Kurse belegt, einen werde ich aufgeben müssen, obwohl sich alle Seminare thematisch in nichts nachstehen und interessant sind. Pro Kurs wird jedoch wöchentlich mindestens ein Lesepensum von 100 Seiten (plus/minus) verlangt. Ein Kurs dauert knapp drei Stunden. Da überlegt man es sich zweimal, ob man „rein aus Interesse“ noch zusätzliche Seminare belegt oder nicht.
Somit habe ich meinen ersten kanadischen Universitäts- (und weniger Kultur-)Schock erlebt: Normale Seminare an der University of Guelph für Masterstudierende sind hier 0,5 Credits wert. Eine deprimierende Zahl wie ich finde. 0,5 – das klingt wie 08/15. Etwas Halbes und nichts Ganzes. Etwas ganz und gar Unspektakuläres, Durchschnittliches, „easy achievable“. Alle studieren so in Kanada. Der Arbeitsaufwand, der hinter dieser unschuldigen Zahl steckt, ist immens – vergleichbar mit (mindestens) neun Leistungspunkten an deutschen Universitäten. Dabei gibt es hier am Ende nicht nur eine große Hausarbeit, sondern Essays, Referate und Discussion- bzw. Response-Papers während des laufenden Semesters. Das abschließende 20 Seiten lange Paper muss irgendwie innerhalb weniger Tage in der letzten Vorlesungswoche geschrieben werden. Ich wünsche mir ein weiteres Paar Arme und einen zusätzlichen Laptop. Vielleicht noch ein Gehirn mehr. Dann kann ich, während ich einen von sechs Vorträgen vorbereite, bereits meine Hausarbeiten anfangen. Mit meinen Füßen lerne ich zusätzlich kochen und putzen. Oder ich steige direkt auf das intravenöse Zuführen aller nötigen Nährstoffe (plus Koffeein) um.
Mit Beginn dieser steil startenden Vorlesungszeit klären sich jedoch auch vorangegangene mysteriöse Dinge, die Clara und mir bei unserer Ankunft in Guelph begegnet sind, auf. Für die „International Week“ haben wir extra eine Woche vor offiziellem Beginn unsere On-Campus-Zimmer bezogen. Die Universität war wie ausgestorben, lediglich die internationalen Studierenden wurden mit Kennlernspielchen durch die leeren Hallen der Universität gejagt und mit „free food for everybody“ (!) in Form von Pizza und Muffins totgeworfen. Pünktlich zu Beginn der Vorlesungen und Seminare am 6. September kam man dann auf einmal mit seinem Fahrrad nicht mehr unbeschadet über den Campus. Zu viele Menschen. Die Studis waren aus ihrem Rehabilitationsurlaub zurückgekehrt. Und nun wundert es mich auch überhaupt nicht mehr, von manch Studierendem schon gehört zu haben, den Campus während des Semesters nur zu verlassen, falls ein Feuer ausbricht. (Dann auch nur sehr widerstrebend, vielleicht könnte man stattdessen mit einem Iced-Choclate-plus-Tripple-Flavoured-Caramel-and-Chunky-Pumpkin-Skim-Milk-Coffee von Starbucks den Brand löschen).
Eine Woche Uni(-spaß) ist vergangen und in meinem Kopf spielen sich bereits also schon jetzt Horrorszenarien ab: Hier geht es nicht darum, gut oder schlecht in der Uni zu sein, sondern ums pure Überleben, irgendwie mitkommen, noch dazu in einer Sprache, in der ich mich zwar an sich sehr wohl fühle, dennoch nie so „intelligent“ ausdrücken werde können wie in deutschen Sprachen. DozentInnen beeindruckt man hier nicht so schnell. Ein Guelpher Student hat es recht passend für Clara und mich bei einem Tässchen Kaffee zusammengefasst: Wenn du halbwegs im Kurs mitkommst, gut für dich. Wenn du durchfällst, was zur Hölle machst du hier? Fleißsternchen bekommt hier niemand in ein kleines Extraheftchen geklebt.
Es ist aber auch nicht nur anstrengend in Nordamerika. Kanada ist ein wunderschönes Land. Ich bin froh, dass ich bereits vor Semesterbeginn auf Reisen war, da man unter dem Semester kaum Zeit dafür haben wird. Beim Wandern im Algonquin Provincial Park bekamen Clara und ich zumindest manchmal das Gefühl so etwas wie “echte” Wildnis und unberührte Natur erleben zu dürfen. Auch hat sich ein nettes Klischee über Kanada und Kanadier bisher bereits des Öfteren bestätigt: Jeder ist furchtbar freundlich zu dir und hilft, wo er kann. Darüber sollte ich mich in meinem Alltag noch mehr freuen, falls das Lern-/Lesepesum mich dahinraffen sollte. Zudem bekommt man für alles Komplimente (ob sie wirklich vollkommen ernst gemeint sind, will ich an dieser Stelle einmal unhinterfragt ignorieren): mein putziger Akzent gefällt (“Oh, sweet! You’re from Germany? But you also have a secret British accent!”), mein mitgebrachter Wollpullover aus Island (“How amazing is that?! I’ve never been to Iceland before!”) oder mein anscheinend breites Repertoire an lustigen Gesichtsausdrücken. (Vor allem letztere Bemerkung irritierte mich im ersten Moment so sehr, dass ich mich anschließend vor einen Spiegel stellen musste, um mich selbst beim Sprechen zu beobachten. Ich habe versucht, mir einen Witz zu erzählen. Tatsächlich hat mein Spiegelbild anschließend gelacht. „Die brechen mich hier“, dachte ich in diesem Moment ein weiteres Mal, nachdem ich aufhörte, lautstark Selbstgespräche zu führen.)
„You are more than you think. You’re good enough, you’re smart enough and goddammit, people like you!” Auch das stand auf einer der Klotüren. Bei diesen Sätzen bekam ich prompt ein paar Tränchen in die Augen. Ja verdammt, ich kann das! So schnell kriegt mich nichts unter! Auch die University of Guelph nicht! Nach dem Toilettengang ging ich schnurstracks ins Hauptgebäude der Universität und habe mir dort ein Poster gekauft, um mein noch etwas tristes Zimmer zu schmücken. Auf dem Bild sitzt ein Äffchen auf einem Berg aus Bananen, mit beiden Händen formt es eine rüde Geste Richtung Betrachter und die Sprechblase über ihm beinhaltet nur ein Wort: Mine!
Ich bin das Äffchen. Die Banen sind die Bücher und all das Wissen, auf dem ich nach diesem Semester thronen werde. Im Gegensatz zu dem Äffchen werde ich mir noch eine coole Sonnenbrille zulegen. Thug life!
Und abschließend noch die besten Grüße an alle Dozentinnen und Dozenten „back in Germany“. In den ersten Wochen eines jeden Semesters seid ihr wirklich lieb zu uns …