Chile – Einige abschließende Gedanken

Vor etwa zwei Wochen hieß es Abschied nehmen von Chile. Ich hoffe jedoch, dass es nur ein Abschied auf Zeit ist und ich irgendwann wieder nach Chile reisen kann. Ein halbes Jahr hat längst nicht ausgereicht, um das Land richtig kennen zu lernen. Nicht einmal in Santiago konnte ich alle Punkte auf meiner (ziemlich langen) Liste abhaken. Gerade hat man sich richtig eingelebt, Freundschaften geschlossen, beginnt sich ohne Google Maps zurechtzufinden und fühlt sich der Sprache immer sicherer, da muss man schon wieder gehen. So unwirklich wie es sich im August angefühlt hatte, plötzlich in Santiago de Chile zu sein, so unwirklich ist es jetzt wieder im winterlich kalten und grauen Deutschland aufzuwachen. Inzwischen bin ich wieder im beschaulichen Konstanz und kämpfe mit der Wintermüdigkeit. Die Tage hier sind unglaublich kurz im Vergleich zu denjenigen in Santiago, wo die Sonne bereits um 5 Uhr morgens am Himmel stand und erst gegen 21 Uhr unterging. In den letzten Tagen habe ich ein paar abschließende Gedanken zu meinem Auslandssemester in Chile gesammelt, die ich hier abschnittsweise mit euch teilen möchte. Zu jedem einzelnen Punkt könnte ich vermutlich einen eigenen Artikel schreiben, aber in der Kürze liegt ja bekanntlich die Würze.

Santiago – Schon im Vorfeld hatte ich die Vermutung, dass die Stadt nicht unbedingt durch ihre Schönheit besticht. Bei Chile-Reisenden ist Santiago auch eher eine Durchgangsstation bzw. Ausgangspunkt für die Weiterreise in den Norden oder Süden des Landes. Auf meinen Reisen im Süden wurde ich von vielen Chilenen gefragt, wie ich Santiago finden würde und ob ich gerne dort lebe. Die Menschen im Süden schienen mir nicht besonders angetan von Santiago und freuten sich riesig, wenn ich erzählte, wie schön ich die kleinen Städte im Süden fand. Santiago und ich haben wohl eher eine schwierige Beziehung geführt. Als ich im August nach Chile kam, zeigte sich die Stadt wochenlang von ihrer kalten, grauen und ungemütlichen Seite. Die Stadt war mir viel zu groß, viel zu chaotisch und laut. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mich die ersten Wochen ausgelaugt hatten. Mit der Zeit aber gewöhnte ich mich an das Großstadtleben und das bunte Treiben und fand meinen Gefallen daran. Die Musiker und Künstler in den Straßen und in der Metro, die vielen Ferias, das Gedränge auf den Straßen, die amüsanten Uber-Fahrten – Santiago wuchs mir immer mehr ans Herz. Vor allem das kulturelle Angebot der Stadt hat mich stark begeistert. Aber ich muss zugeben, es war eine Liebe auf dem zweiten Blick. Ich hatte das Glück in Providencia, einem ruhigen und familiären, aber trotzdem zentral gelegenen Stadtteil zu wohnen, nur etwa 15 Gehminuten von meinem Institut entfernt. Dort, abseits vom Trubel des Stadtzentrums, ließ es sich gut aushalten. Aber auch in Providencia sieht man täglich die Schattenseiten der Großstadt. Gerade einmal einen Block von meiner Straße entfernt zeltet eine Gruppe von Menschen auf der Rasenfläche an einer vielbefahrenen Straßenkreuzung. Ihre Wäsche hängten sie in die Bäume und ihre Notdurft verrichten sie in Eimern neben den Zelten. Die vorbeilaufenden Menschen schenken ihnen keine Beachtung. An der selben Kreuzung läuft jeden Tag ein blinder Mann mit Stock von Auto zu Auto und hofft auf Almosen. Diese Menschen sind nur ein Beispiel für das viele Elend, das ich in Santiago beobachtete. Diese extreme Armut hatte ich während meines Auslandsaufenthalts in Montevideo nicht beobachten können. Auch kann ich mich nicht erinnern, im (touristischen) Zentrum von Buenos Aires so viele Obdachlose gesehen zu haben. In Santiago sah ich verkrüppelte, schwer kranke Menschen, die auf der Straße sitzen und auf eine Spende der Vorbeigehenden hoffen. Meinen Ausflug zu dem Bauernmarkt La Vega nördlich des Stadtzentrums werde ich so schnell nicht vergessen. Santiago ist eine Stadt der absoluten Gegensätze und vielleicht ist es gerade das direkte Nebeneinander dieser Gegensätze, die sie so krass erscheinen lassen. So modern, fortschrittlich und gewisserweise “westlich” Chiles Hauptstadt auf dem ersten Blick erscheint, so viele Missstände lassen sich bei näherem Hinsehen beobachten. Santiago hat mir in jedem Fall viel zum Nachdenken gegeben und mir noch einmal ein ganz anderes Bild einer südamerikanischen Großstadt vermittelt. Ich glaube, dass Santiago mich aufmerksamer und kritischer gemacht hat und ich in diesem halben Jahr auch viel über mich selbst gelernt habe.

Sexismus – Ein Begriff der seit dem Harvey Weinstein-Skandal und der #Metoo-Kampagne gerade in aller Munde ist und auch in Deutschland die Debatte über die (sexuelle) Diskriminierung von Frauen wieder ins Rollen gebracht hat. Sexismus war ein Thema, das mich während meines Auslandssemester begleitet hat – in meinem Seminar über Gewalt gegen Frauen, aber auch privat im Alltag. Was verstehen wir unter Sexismus? Wo fängt Sexismus an? Sexismus hat viele Formen und ist allgegenwärtig – in der Werbung, im Film, auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Politik. Sexismus kann in bewusster oder unbewusster Form auftreten. So kann ein nett gemeintes Kompliment von der Angesprochenen als diskriminierend empfunden werden. Ich habe die Sexismus-Debatte der letzten Monate mit Interesse in Chile verfolgt und verschiedene Artikel dazu gelesen. Auch in Santiago gingen Mädchen und Frauen auf die Straße, um gegen sexuelle Übergriffe und Gewalt zu demonstrieren. Studentinnen protestierten öffentlich gegen sexuelle Belästigung – auch im Hochschulbetrieb. Macho-Kultur und sexuelle Gewalt ist nicht nur in Chile, sondern auch in anderen südamerikanischen Ländern wie Argentinien, Peru oder Mexiko an der Tagesordnung. In den letzten Jahren haben verstärkt öffentliche Kampagnen wie #NiUnaMenos international für Aufmerksamkeit gesorgt. Auch immer mehr Prominente schalteten sich in die Debatte ein. Sexismus ist auch in Santiago allgegenwärtig. Im Stadtzentrum gibt es zum Beispiel mehrere Cafés in denen “Café con piernas” (Café mit Beinen) von Frauen in engen, sehr knappen Röcken serviert werden. Hohe Tresen und Spiegel an den Wänden bringen die nackten Beine der Angestellten zusätzlich zur Geltung. Für uns Europäer ein eher irritierender Anblick, aber für die (männlichen) Chilenen eine beliebter Ort für einen Mittagssnack. Als vergleichsweise große, hellhäutige Frau mit hellbraunem Haar folgten auch mir häufig Blicke von Männern – auf dem Weg in die Uni, im Supermarkt, im Bus, in der Metro. Nicht selten pfiff man mir hinterher, hupte mich aus dem Auto heraus an, rempelte mich an oder rief mir etwas hinterher. In solchen Situationen reagierte ich meistens so, als hätte ich nichts bemerkt und schenkte dem Übeltäter keine Beachtung. Es gab jedoch auch Situationen, in denen ich nicht einfach weitergehen konnte. Ich erinnere mich an ziemlich unverschämte Taxifahrer und einen Angestellten im Copy Shop. Diese Situationen hatten mich besonders wütend gemacht, weil ich auf die Dienstleistung dieser Männer angewiesen war und mir ihre frechen Sprüche notgedrungen anhören musste. Ich sprach häufig mit meinen Mitbewohnerinnen über solche Erfahrungen im Alltag. Sie alle hatten ähnliches erlebt. Trotz Außentemperaturen von über 30 Grad trug ich überwiegend lange Hosen und Röcke. In wirklich knapper Bekleidung sah ich eigentlich nur Touristen durchs Zentrum laufen. Sexismus ist ein schwieriges Thema und wie schwer es ist, darüber zu sprechen, zeigen die viel zu spät öffentlich gewordenen Anklagen von Frauen, vor allem aus der Filmbranche. Ich hoffe, dass sich diese Debatte nicht wieder im Sand verlaufen wird und wirklich eine Änderung herbeiführen wird – zuallererst in den Köpfen.

Chileno – Die Sprache war tatsächlich meine größte Sorge bevor ich nach Chile gegangen bin. Das Spanisch-Sprechen ist mir immer schwerer Gefallen als das Schreiben. Ich konnte jedoch von Anfang an gut in den Kursen folgen, eigentlich sogar besser als in den Unterhaltungen im Alltag, in denen oft undeutlicher und schneller gesprochen wird. Das chilenische Spanisch gilt in Südamerika als das schwierigste Spanisch, weil die Chilenen nicht nur unglaublich schnell sprechen, sondern auch eine Reihe von Wörtern und Wendungen besitzen, die nur innerhalb des Landes gesprochen werden. Einige dieser Wörter gehen auf Einflüsse der indigenen Sprachen wie dem Quechua und dem Mapudungun (Sprache der Mapuche) zurück. Die Mehrheit der typischen Chilenismen werden eher in der informellen Kommunikation benutzt, wobei man bei der Verwendung vorsichtig sein muss, da schnell die Gefahr besteht, ins Fettnäpfchen zu treten. Bei vielen dieser Wörter handelt es sich um vulgäre Ausdrücke, die man aber trotzdem erstaunlich oft bei Unterhaltungen auf der Straße, am Telefon oder bei Treffen zwischen Freunden aufschnappt. Ich habe eine kleine (!) Liste mit Chilenismen zusammengestellt, denen ich häufig begegnet bin:

po – Anhängsel an fast jedem Satz (von “pues”)

huevón/a – freundschaftlich “Kumpel” oder “Alter”, bösartig “Idiot” (beliebtes Anhängsel am Satzende)

porfa – bitte (Kurzform von “por favor”)

bacán – toll

Cachai? – Verstehst du?

Chuta! – Ausdruck des Ärgers oder der Überraschung

capo – Experte, cleverer Typ

poto/ queque – Hintern (es gibt sehr viele Wörter für “Hintern” im Spanischen)

carrete – Feierei, Fete

lata (Me da lata) – Langeweile

tincar (Te tinca?) – vermuten, gefallen

luca – 1000 Pesos

micro – Stadtbus

taco – Verkehrsstau

nana – Putzfrau, Kindermädchen

wawa – Baby

pololo/a – fester Freund/feste Freundin

onda (Es de buena onda) – Stimmung, Lebenseinstellung, Wesenart

Deutsche in Chile – Da ist man tausende Kilometer von Deutschland entfernt und trifft doch wieder auf Deutsche bzw. deutschstämmige Chilenen. Im 19. Jahrhundert und dann 1933 und 1945 wanderten viele Deutsche nach Chile aus. Etwa 500.000 Chilenen stammen heute von Deutschen ab, um die 30.000 sprechen noch Deutsch als Muttersprache. Die deutschen Einwanderer ließen sich vor allem im sogenannten kleinen Süden Chiles nieder, das an das Territorium der Mapuche grenzte. Bis heute dauern die Konflikte zwischen Angehörigen des indigenen Volkes und Großgrundbesitzern in der Region an. Auf meinen Reisen in den Süden Chiles ist mir die von deutschen Einwanderern geprägte Kultur sofort aufgefallen. Vor allem in der Región de Los Lagos um Puerto Varas haben Deutsche sichtbare Spuren hinterlassen. Schindeldächer, Supermärkte und Kneipen tragen deutsche Namen, in den Cafés werden Schwarzwälder Kirschtorte und Apfelstrudel serviert und auf den Speisekarten stehen deutsche Gerichte und – natürlich – deutsches Bier. In Puerto Varas gibt es sogar ein deutsches Klubhaus, eine deutsche Schule und eine deutsche Feuerwehr. Unser Hotel trug den Namen “Germania” und der Besitzer, ein netter älterer Mann, sprach mit uns in einem holprigen, etwas altmodischen Deutsch. Im unweit entfernten Puerto Montt, ebenfalls eine von Deutschen Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Stadt, begrüßte man uns mit einem freudigen “Hallo” und verabschiedete uns mit einem “Wiedersehen”. Während sich der Wortschatz der Jüngeren meistens nur auf wenige Floskeln beschränkt, konnten sich viele ältere Chilenen fließend mit uns unterhalten. Die Chilenen im Süden haben ein sehr positives Bild von Deutschland. Die Deutschen beschreiben sie als gute Käufer, die Qualität schätzen und einen guten Geschmack haben. Die Seenregion mit ihren Mischwäldern, Bergen und klaren Seen muss den deutschen Siedlern wie ein Abbild der Alpen erschienen sein – mit Ausnahme der imposanten Vulkane. Die deutschen Siedler haben sich in jedem Fall auf einem sehr schönen Fleckchen Chiles niedergelassen. Ein Fleckchen, dass mir auch sehr gefallen hat.

Ich hoffe, dass sich dieser Artikel nicht zu verwirrend war. Ich habe hier eine Reihe sehr unterschiedlicher Punkte kurz ausgeführt, die ich gerne noch loswerden und mit euch teilen wollte. Es waren Erfahrungen aus meinem Auslandssemester in Chile, die mich begleitet und zum Nachdenken gebracht haben. Auch wenn ich hier einige negative Punkte aufgeführt habe, bewerte ich meine Zeit in Chile als sehr positiv und bereichernd – in menschlicher als auch akademischer Hinsicht. Chile ist ein unglaublich schönes, vielseitiges und interessantes Land und die Chilenen sind ein herzliches, offenes, sehr symphatisches und entspanntes Volk. Carolina hatte mich bei unserem ersten Treffen in Konstanz “vorgewarnt”, dass die Chilenen ein sehr lustiges Völkchen seien und sehr viel lachen würden. Damit hatte sie nicht ganz Unrecht. Ich glaube, dass uns Deutschen ein bisschen mehr von der chilenischen Gelassenheit und Offenheit nicht schaden könnte.

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