Studieren auf chilenisch

Ich bin wieder zurück in Deutschland, zumindest physisch. Psychisch bin ich mir noch nicht ganz sicher. Die letzten Tage in Santiago sind wie im Flug vergangen und plötzlich fand ich mich schon übermüdet und aufgeregt zugleich am Check-In-Schalter wieder, um meine Rückreise anzutreten. So ganz kann ich es immer noch nicht glauben, dass mein Auslandssemester in Chile nun vorüber ist. Bevor sich die “Post Erasmus Depression” bei mir bemerkbar macht, möchte ich wie versprochen einige Blogbeiträge nachholen. Beginnen möchte ich mit meinem Studium am Instituto de Estudios Avanzados der Universidad de Santiago de Chile.

Meine Partneruniversität, die Universidad de Santiago de Chile, ist eine öffentlich-staatliche Universität und gehört zu den größten Universitäten des Landes. Sie ist – wenn ich mich nicht irre – die jüngste Partneruniversität unseres Studiengangs. Mein Institut, das Instituto de Estudios Avanzados mit der vielversprechenden Abkürzung „IDEA“ (deutsch: Idee) liegt im Stadtteil Providencia, nur wenige Fußminuten von meiner Unterkunft entfernt. Die Atmosphäre am Institut ist sehr familiär und herzlich. Die kleinen Kursgrößen ermöglichen ein enges Betreuungsverhältnis und meine Professoren waren stets hilfsbereit und rücksichtsvoll. Carolina Pizarro und ihr Mann José Santos (Pepe genannt) waren nicht nur meine Professoren, sondern auch Ansprechpartner bei Fragen und Problemen. Ich hatte das große Glück, die beiden schon im Vorfeld in Konstanz kennenzulernen. Nach den Treffen mit Carolina und José in Konstanz hatten sich schon viele Sorgen verflüchtigt und ich hatte das Gefühl, die richtige Wahl getroffen zu haben.

Carolina hatte mir bereits vor Beginn des Auslandssemesters eine Liste mit dem Veranstaltungsangebot zukommen lassen, die mich auf dem ersten Blick sehr angesprochen hatte. Die Auswahl und Einschreibung in die Kurse (insgesamt drei Pflichtkurse) erfolgte jedoch erst nach meiner Ankunft in Santiago de Chile direkt im Institut. Da die Kursgrößen überschaubar sind, hatte ich keine Probleme bei meiner Auswahl. Ein größeres Problem stellte die zeitliche Überschneidung der Kurse da, weil alle Magister- und Doktorandenkurse am Institut zur selben Zeit (18.30-21.30 Uhr) stattfinden. Schließlich entschied ich mich für drei Kurse, die meinen Interessen und bisherigen Schwerpunkten entsprachen.

Bei Carolina und José besuchte ich den Doktorandenkurs “Revisitar la catástrofe” zum Thema Gefangenschaft und Folter während der Militärdiktatur in Chile, aber auch in Argentinien und Uruguay. Das Seminar war das anspruchvollste, aber auch das spannendste und lehrreichste. Da ich mich seit meinem Bachelorstudium intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigt hatte, konnte ich hier auf wichtige theoretische Grundlagentexte zurückgreifen. Jeder der Seminarteilnehmer arbeitete während des Semesters selbstständig an einem Artikel zu einem selbstgewählten Thema, die zu einer Publikation zusammengefasst werden. Ich hatte entschieden, mich mit der deutschen Sekte Colonia Dignidad und ihrer Rolle während der Pinochet-Diktatur auseinanderzusetzen. Nach einigem Überlegen fuhr ich auf eigene Faust zur heutigen Villa Baviera, um einen persönlichen Eindruck von dem Ort zu erlangen. Meine erste eigene Feldforschung erwies sich als äußerst gewinnbringend für meinen Artikel, aber stellte sich auch als sehr nervenaufreibende Unternehmung heraus. Das Thema Colonia Dignidad hat jedenfalls mein Interesse geweckt und wird mich so schnell nicht loslassen. Im Rahmen des Seminars nahm ich zudem an einem Kolloquium in Montevideo teil. Bei diesem hörte ich mir verschiedene Vorträge zu Themen der Erinnerung und Aufarbeitung der Militärdiktaturen in Chile, Uruguay und Argentinien an.

Ein weiteres Seminar, das ich besuchte, war zum Thema “Violencia de género”. Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist in Südamerika ein großes und bekanntes Problem. Laut aktuellem Bericht der UNO-Gleichstellungsorganisation (UN Women) aus dem letzten Jahr sind Lateinamerika und die Karibik die gefährlichsten Länder für Frauen. Die Rate sexueller Gewalt gegen Frauen außerhalb von Beziehungen ist in diesen Regionen am höchsten. Mexiko, El Salvador, Honduras und Guatemala führen die Liste der gefährlichsten Länder an. Zwei von drei Frauen in diesen Ländern werden ermordet – weil sie Frauen sind. Schon während meines ersten Südamerika-Aufenthalts vor zwei Jahren wurde ich auf das Problem von Gewalt gegen Frauen und Frauenmorden (“feminicidos”) aufmerksam. Damals wurde die feministische Bewegung “Ni una menos” (Nicht eine weniger) ins Leben gerufen. Von Argentinien breitete sich die Bewegung innerhalb weniger Wochen auf weitere südamerikanische Länder wie Uruguay und Peru aus. Unter dem gleichnamigen Hashtag (#niunamenos) solidarisierten sich Frauen weltweit mit der Bewegung und machten auf die Gewalt im eigenen Land aufmerksam. In dem Kurs beschäftigten wir uns zunächst mit Theorien zur Gewalt (u.a. Hannah Arendt), dann mehrheitlich mit feministischen Theorien, darunter viele lateinamerikanische Autorinnen, und schließlich mit konkreten Beispielen von Gewalt gegen Frauen (z.B. Ciudad Juárez) unter Berücksichtung der theoretischen Texte. Das Thema “Gewalt gegen Frauen” ist wichtig und leider auch sehr aktuell. Ich bin froh, dass Seminar trotz der schwierigen Thematik gewählt zu haben.

Mein drittes Seminar zum Thema Rassismus in Südamerika gestalteten wir aufgrund der geringen Teilnehmerzahl (2 Personen) etwas offener, indem wir den Schwerpunkt auf Texte indigener Autoren legten. Besonders spannend fand ich die Sitzungen zum Konflikt des chilenischen Staates mit den Mapuche, Chiles größter indigener Bevölkerungsgruppe, die mehrheitlich im Süden des Landes lebt. Am Ende sprachen wir auch über “Buen Vivir”, wobei ich mit Vorwissen aus dem Seminar bei Frau Mahlke aus dem vorletzten Semester punkten konnte. Durch die kleine Kursgröße war das Seminar sehr intensiv und baute auf viele Einzelpräsentationen auf, weshalb es eher einem Tutorium glich. Auch hier habe ich viel Neues dazugelernt.

Mein Kurs “Revisitar la catástrofe”
Das Instituto de Estudios Avanzados (IDEA)

Die Anforderungen in den Kursen sind mit denjenigen der Universität Konstanz vergleichbar. Für alle drei Kurse musste ich wöchentlich Texte und Präsentationen vorbereiten. Während in Deutschland in der Regel eine Präsentation pro Kurs vorgesehen ist, musste ich in zwei Kursen mehrere (Einzel-)präsentationen halten. Die ersten Präsentationen haben mich noch ganz schön ins Schwitzen gebracht, aber mit der Zeit ging ich entspannter an die Vorbereitung heran und auch das Spanisch ging mir leichter und fließender über die Lippen. Die Endnoten setzen sich aus mündlicher Beteiligung, den Präsentationen und einem wissenschaftlichen Artikel zusammen. Die Artikel umfassen jeweils 15-20 Seiten und sind mit den Hausarbeiten in Deutschland vergleichbar, allerdings ohne die für die Hausarbeiten typische Unterteilung in einzelne Kapitel. Eine große Umstellung war es für mich, dass die Artikel im Semester geschrieben wurden und nicht wie in Deutschland in den Semesterferien. Diese Vorgabe ist zwar mit einem höheren Workload im Semester verbunden, aber anschließend kann man die vorlesungsfreie Zeit auch voll ausnutzen. Davon können Studierende der Geisteswissenschaften in Deutschland nur träumen…

Eine große Umstellung für mich waren auch die abendlichen Seminarsitzungen von 18.30 bis 21.30 Uhr. Da viele Chilenen neben dem Masterstudium bereits arbeiten, finden dir Kurse am Abend statt. Während meine Mitbewohner den Feierabend einläuteten, ging es für mich in die Universität. Gewöhnungsbedürftig sind auch die Unibibliotheken in Santiago. Während man in Deutschland beim kleinsten Geräusch schief angeguckt wird, herrscht in den Bibliotheken häufig lautes Treiben. Es wird telefoniert, laut diskutiert, gegessen, Handys klingeln und manchmal läuft sogar Musik (!). Wenn ich das Bedürfnis nach einem Tapetenwechsel verspürte, ging ich daher meistens in eine öffentliche Bibliothek, in denen eine deutlich ruhigere Atmosphäre herrscht. Nicht nur einmal habe ich die gut ausgestattete und sortierte Bibliothek der Universität Konstanz vermisst. Mit den Bibliotheken, den Arbeitsplätzen und Druckerräumen sind wir in an den deutschen Universitäten ziemlich verwöhnt. Das IDEA besitzt eine kleine und schlecht ausgestattete Bibliothek. Die meisten Texte stehen in digitaler Version im Internet zur Verfügung. Texte bzw. Bücher, die online nicht verfügbar sind, werden privat gekauft. Insgesamt ist die Studienstruktur und -organisation derjenigen in Deutschland sehr ähnlich, so dass ich ohne große Probleme zurecht gekommen bin.

Ich bin jedenfalls sehr zufrieden mit meinen Auslandssemester in Chile. Ich habe unglaublich viel Neues gelernt, habe interessante Vorträge gehört, mich in völlig neue Themen eingearbeitet, meine erste Feldforschung durchgeführt, Kontakte geknüpft, interessante Gespräche geführt und einen Artikel für eine Publikation geschrieben. Ich kann allen zukünftigen KGE-Generationen ein Auslandssemester am IDEA nur wärmstens empfehlen und stehe gerne für weitere Fragen zu Verfügung. 🙂

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