Shanghai-Flashback anlässlich Prokrastination

Ich sitze bei schönstem Sonnenschein und einer angenehmen Brise oberhalb der „Skylight Plaza“ auf dem Campus. In Deutschland wäre dieses Wetter vermutlich ein schöner Frühsommertag, in Hongkong ist es ein Morgen im Spätherbst. Rechts von mir brummt eine Lüftung und eine kleine Unebenheit im Boden ist mit drei Warnhütchen und grün-weißem Flatterband abgesperrt. Um gerade mal halb zehn ist noch nicht viel los, nur gelegentlich schlendern quatschende Grüppchen oder verschlafene Individuen zum Unterricht. Ich selbst habe heute keine Uni und wollte/sollte eigentlich an meinen beiden Hausarbeiten schreiben, von denen sich der ganze Kurs nicht sicher ist, ob wir nun zwei, fünf, acht oder zehn einfache Seiten oder doch zehn Doppelseiten schreiben sollen. Eigentlich habe ich auch zwei Gruppenpräsentationen für nächste Woche vorzubereiten. Eigentlich… eigentlich wollte ich euch nicht mit meinem Unistress am Ende des Semesters langweilen, den ja vermutlich alle zu genüge kennen, egal wo sie grade sind. Eigentlich wollte ich meine Prokrastinationsenergie nutzen und endlich mal den Blogeintrag über unseren Besuch bei Carina und Matthias in Shanghai Ende Oktober schreiben!

Wie so oft ist es schwierig, anzufangen, einen der vielen Fäden dieses Wochenendes aufzunehmen und einen Teil der Geschichten und Eindrücke zu erzählen. Wir waren von Donnerstag bis Montag in Shanghai und haben eine Menge gesehen. Von der im Gegensatz zu Hongkong etwas enttäuschenden Skyline des Finanzdistrikts Pudong, über das sehr hübsche, wenn auch sehr kommerziell-touristisch neuaufgebaute Altstadtviertel bis zum art district M50 auf einem alten Fabrikgelände waren wir kreuz und quer durch die riesige Stadt unterwegs.

Zwischendurch haben wir viel gequatscht und unsere Beobachtungen und Erfahrungen in und mit China ausgetauscht: „Wie ist das denn bei euch?“ „Also bei uns habe ich schon gesehen/mitbekommen/gehört, dass…“ Diese Gespräche haben mich Hongkong tatsächlich zum ersten Mal richtig als „meine Stadt“ wahrnehmen lassen. Meine Eindrücke von Hongkong bzw. vom Auslandssemester generell zu vergleichen und mit Menschen in derselben Situation zu teilen, war dann nochmal was anderes als Freunden und Familie in Deutschland davon zu erzählen. Und natürlich haben wir sehr gut gegessen! Neben sehr gutem chinesischem Essen (was in Hongkong leider eher schwieriger zu finden ist) haben wir uns auch „Western Style“ Essen gegönnt. Am Sonntag waren wir zum Beispiel im französischen Viertel brunchen und sind alle ausgerastet, angesichts von Vollkornbrot, Croissants, Salat, Joghurt und frischem Obst… Wir müssen auf Außenstehende sehr verrückt gewirkt haben! Einen Teil der Verrücktheit, die uns das ganze Wochenende begleitet hat, zeigt ganz gut dieser Auszug aus einem Sprachmemo, das Anne und ich direkt nach der Ankunft auf dem Weg zu unserem AirBnB aufgenommen haben:

AW:      Also wir sind jetzt angekommen und es gab keine Ansage von wegen „Please hold the handrail“. Ich hab es fast vermisst, weil stattdessen überall Soldaten rumliefen und ich weiß echt nicht, was besser ist. Ich bin lieber dafür, vollgequatscht zu werden, was ich tun soll, als SOLDATEN da stehen zu haben, die mich böse angucken

AB:        Und es gibt auch nirgendwo irgendwelche Schilder, die einem sagen, was man machen und was man nicht machen soll. Also es gibt ein paar, aber das ist ganz normal – also „normal“ ist jetzt auch wieder blöd, aber ja. Und jetzt sind wir grad in der Metro, MTR, S-Bahn, was auch immer, Linie 10.

AW:      Und die Halterungen sind einfach mal mit pinken Madamchen ausgestattet!

AB:        Genau, wo man sich festhalten kann, da sind irgendwie überall noch so Werbeboxen dran. Und Anne hatte grade einen Kaffee, weil wir mussten nämlich irgendwie unseren 100-Yuan-Schein kleinkriegen –

AW:      Ich glaub, wir sind grad voll reich. Ich hab voll Angst, dass mich jemand beklaut oder so, weil ich so „bling, bling“, wir haben jetzt 1000 Yuan abgehoben und keine Ahnung, wie viel das ist

AB:        Jaaaa, Anne ist mit dem ganzen vielen Geld in der Hand zu nem Typ gegangen, hat ihn gefragt, ob er wechseln kann und er war n bisschen schockiert und meinte so „Neee….“

AW:      Der hatte so kleine Münzen gezeigt…

[100 Yuan sind tatsächlich „nur“ um die 13€, und 1000 Yuan war auch eine der normalen Optionen, die uns der Geldautomat beim Abheben gegeben hat. Für Metro-Fahrten haben wir das ganze Wochenende jedoch selten mehr als 10 Yuan bezahlt, Essen kostete meist um die 40 Yuan. 100 Yuan von einem x-beliebigen Passanten wechseln zu wollen, war also schon fast utopisch]

AB:        Und dann haben wir für jeweils fünf Yuan single journey tickets für diesen öffentlichen Nahverkehr gekauft…

AW:      …mit einer blauen und einer grünen Pille…

AB:        äh, rot is sie. Also meine ist rot und Anne hat ne grüne und wir sind jetzt mal gespannt, was mit unserer Realität passiert, wenn wir ankommen.

 

[Tatsächlich waren die Mehrweg-Fahrkarten rot und grün, die uns aus dem Ticketautomaten entgegenpurzelten und wir konnten uns nicht helfen, als diese Matrix-Assoziation zu haben… Die unmittelbare Realität war dann aber nur insoweit verschoben, dass wir die locals noch weniger verstanden als in Hongkong und neue Kommunikationsstrategien entwickeln mussten, um z.B. die Einweisung im AirBnB zu verstehen. Einblicke in die Feinheiten der Lebensrealität in China dauerten etwas: Froh zu sein, dass der VPN auf Matthias’ Handy funktionierte und wir unseren Weg mit Google Maps finden konnten oder die sichtlich große Freude besonders der internationalen Studierenden über blauen Himmel am Freitag und Samstag. Diese Eindrücke werden mich sicher noch ein bisschen begleiten.]

Insgesamt ist es, denke ich, nicht übertrieben zu sagen, dass es sehr, sehr großartig und ein bisschen weniger verrückt war, als dieser Gesprächsmitschnitt möglicherweise suggeriert (aber nur ein bisschen 😉 )! Ich habe mich unglaublich gefreut, euch wieder zu sehen, Carina und Matthias, und ihr ward die besten Tour Guides, die ich mir vorstellen kann 🙂

2 thoughts on “Shanghai-Flashback anlässlich Prokrastination

  1. meine liebe Zwei,
    es war so schön, dass ihr uns besucht habt und ich muss schon wieder lachen wenn ich daran denke wie wir Sonntags Croissants und Joghurt gefeiert haben, uns einfach mal über unsere schon manchmal verückten Städte austauschen konnten und gleichzeitig doch auch ein bisschen Heimat am anderen Ende der Welt zusammen hatten. Ein Power-Gruß aus dem doch einiges kälteren Shanghai an Euch und Eure Hausarbeiten

  2. Liebe Annen,

    Vielen Dank für euren schönen Reisebericht. Uns hat es auch sehr gut gefallen: Der leckere Brunch, der Sightseeing-Tunnel ohne sightseeing, der nur leicht verstörende Zoo! Ich hoffe ihr habt noch eine gute Zeit in Hong Kong und schafft auch eure letzten Prüfungsleistungen ohne großen Stress. Bald sind wir alle schon wieder in Deutschland und ich freue mich schon, wenn wir uns nächstes Jahr alle wieder sehen. 🙂

    Liebe Grüße,
    Matthias

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