Über die Freiheit

Seit einem Monat schreibe ich nun an diesem Eintrag, schreibe, lösche, füge hinzu, überarbeite und bin doch nie zufrieden. Über den Begriff der Freiheit zu schreiben, müsste doch eigentlich bedeuten, ich könnte Freiheit definieren und ganz genau feststellen wann Freiheit aufhört oder wo sie beginnt. Nach der Kulturtheorienvorlesung denke ich an Rousseau, an Herder, an Nietzsche und versuche mir mein eigenes Konzept von Freiheit zusammenzustellen.

Von Anfang an schwebte die Frage nach der Freiheit im Raum. Nach den Unikursen treffen wir uns regelmäßig und staunen, lachen und verzweifeln an den Aussagen der Professoren. Können es nicht fassen, wenn Matthias von Lektionen erzählt, in denen einem wortwörtlich der Mund verboten wird. Verdrehen die Augen, wenn Taiwan, Tibet oder ethnische Minderheiten im Allgemeinen nicht einmal erwähnt werden dürfen, oder historische Tatsachen verdreht werden. Manchmal ärgern wir uns aber auch einfach nur, dass der VPN nicht funktioniert und wir uns nicht bei unseren Liebsten melden können. Allgegenwärtig ist sie – die Frage nach der Freiheit und irgendwie geht es in jedem längeren Gespräch doch über sie.

Akademisches Arbeiten wie wir es kennen, kritisches Hinterfragen als Essenz der Bearbeitung eines Themas sind hier unerwünscht. Hausarbeiten und Referate sind Wiedergabe von Wissen anstelle von Vernetzung verschiedener Themen. Beispielsweise wird das Tian’anmen Massaker, die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes in Peking im Juni 1989, im Unterricht offiziell als „accident“ bezeichnet. Eine Referentin die diesen als „incident“ benannte, wurde direkt verbessert. Selbst im chineischen Bing, Baidu oder ähnlichen Suchmaschinen findet sich zum Thema Tian’anmen Square nichts, abgesehen von der Sehenswürdigkeit selbst.

Natürlich schreibe ich hierbei aus einer sehr persönlichen Stellung heraus, habe ich Kommilitonen/innen, die von offenerer Atmosphäre in den Unterrichtsstunden berichten. Dies ist auch kein Bericht, der negativ über die Fudan University berichten soll. Ich fühle mich hier wohl und lerne sehr viel über die Chinesische Gesellschaft, ihre Geschichte, Religion und Sprache. Ich kritisiere nur eine Art des Denkens, die für uns völlig unvorstellbar ist.

Ich lerne in China jeden Tag wie privilegiert ich mich schätzen kann „weiß“ zu sein und einen deutschen Reisepass zu besitzen. Ich bin frei, ich kann gehen wohin ich möchte und ohne mich in Gefahr zu wägen meinen VPN benutzen um Nachrichten außerhalb von China zu empfangen. Ich kann mir meiner Freiheit sicher sein, darf mir meine Meinung bilden und diese sogar online veröffentlichen. Verglichen mit früheren Jahren, kann heute in China von einer Freiheit gesprochen werden, die für manche Generationen überwältigend ist. Die Möglichkeit sich zwischen Arbeitsstellen zu entscheiden, einen Job sogar abzulehnen war in der Zeit vor der Reform nicht möglich. Trotzdem habe ich festgestellt, öffentlich über Freiheit in China zu reden bringt bei den “Locals” immer eine gewisse Grundangst mit sich, weshalb mein Eintrag leider nur die Beobachterperspektive einnimmt. Ich schreibe hierbei  meine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Leben in China fernab von all den Reisen, den Sehenswürdigkeiten und dem ersten Eindruck nieder. Ich suche noch nach meiner Definition von Freiheit, aber zumindest bin ich überzeugt davon, dass dieses Semester in China mich näher an mein ganz persönliches Verständnis von „frei sein“ bringen wird.

 

2 thoughts on “Über die Freiheit

  1. Liebe Carina,
    Fast hätte ich geschrieben “ich kann mir nach der Lektüre gut vorstellen, was du meinst” – und zögere dann doch, es einfach so zu formulieren. Denn wie es ist, tagtäglich mit Zensur, Geschichtsverdrehung und weißen Flecken konfrontiert zu sein, kann ich mir eigentlich kaum vorstellen. Denn dafür ist es dann doch zu weit von meiner Realität entfernt. In Hong Kong habe ich bis jetzt hauptsächlich Professoren erlebt, die zwar mit einem Augenzwinkern, aber doch eigentlich sehr ernsthaft bemerkten, dass sie eine kritische Aussage hier ja zum Glück machen können, 50km nördlich aber schon nicht mehr. Diese Einschränkungen im “Mutterland” beunruhigen und beschäftigen die Menschen hier schon. Und dann denke ich, dass die Freiheit, (fast) alles sagen, denken, schreiben, diskutieren und veröffentlichen zu können, was ich will, für mich vielleicht zu selbstverständlich ist. Wobei diese Selbstverständlichkeit natürlich auch gut ist. Nur das Bewusstsein für die Selbstverständlichkeit geht im Alltag unter.
    Von daher: Danke, dass du mich mit deinen Überlegungen daran erinnert hast! 🙂
    Liebe Grüße
    Anne

  2. Ich finde es sehr spannend, inwieweit Freiheit – ein eigentlich universeller Begriff – so unterschiedlich ausgelegt werden kann. Wir haben ein riesiges Privileg in Europa, vor allem in Deutschland, und das ist tatsächliche Gedankenfreiheit. Ich kann mir (genauso wie Anne) vermutlich kaum vorstellen, wie krass das doch vor Ort in Shanghai ist und wie es sich für euch anfühlen muss. Gut ist dabei einfach, dass ihr euch noch gegenseitig habt, um darauf aufmerksam zu werden und darüber zu reden. Dann könnt ihr daraus hoffentlich lernen und wir schätzen unsere Heimat einmal mehr 🙂
    Bisous ans andere Ende der Welt! Und danke für deinen Post, der ist auch nach langem Löschen, Ändern und Hinzufügen genau richtig geworden!

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *