Ein Brief an Tomke, und an Chile, und ein bisschen an mich selbst.

Liebe Tomke,

als du in Buenos Aires in meine Wohnung rein kamst, zu Besuch für fast 10 Tage auf der anderen Seite des Kontinents, da war das Erste, was du bemerktest, der blaue Himmel. Dass du den in Santiago quasi nie sehen würdest, vor lauter Smog, sagtest du. Das hat mich schwer beeindruckt, denn irgendwie konnte ich mir das so gar nicht vorstellen. Deshalb war ich umso neugieriger auf meinen Gegenbesuch bei dir in Chile, der gerade vor einer Woche zu Ende gegangen ist.

Ich war etwas erstaunt, als ich Santiago aus dem Flieger mit all seinen Wolkenkratzern hinter den schneebedeckten Bergen erkennen konnte. Irgendwie hatte ich wohl eine riesige Smog-Glocke über der Stadt erwartet und keine 20m Sicht. Ganz so schlimm war es dann doch nicht, aber ich konnte in den drei Tagen in Santiago durchaus erahnen, was du mit dem blauen Himmel meinst: An einem Tag sah ich die Statur der Heiligen Jungfrau auf dem Cerro San Cristobal einige Kilometer entfernt über die Stadt ragen, am nächsten schon nicht mehr.

Du warst außerdem ein bisschen neidisch auf mich, als wir durch Buenos Aires schlenderten und an jeder Ecke ein weiteres schönes Café auftauchte, eins hipper als das andere und mit Smoothie-Variationen, dass einem ganz schwindelig wird vor lauter Extravaganz. Ja ich laufe auch gerne durch Buenos Aires, denn man kann sich hier so gut treiben lassen und es wird dabei nie langweilig. Aber in Santiago wurde mir auch nicht langweilig – auf eine andere Art und Weise eben. Man muss die Augen schon sehr aufmerksam schweifen lassen, um zwischen all den grauen (Hoch-)Häusern mal ein hübscheres zu erblicken, aber dann sind sie da: Die historischen Gebäude, die uralten Kirchen und dazwischen ein paar (ehrlich gesagt: sehr viele) Statuen von Männern auf Pferden. In Santiago habe ich mich viel öfters als in Buenos Aires gefragt, wie die Stadt wohl aussehe, wenn die Spanier nicht dort gewesen wären und wenn die indigene Bevölkerung einfach im Laufe der Zeit ihre eigene Stadt aufgebaut hätte. Denn der gänzlich andere Charakter der Chilenen war schon auf ihren Gesichtern zu erkennen: Während die Argentinier sehr europäisch geprägt sind und dabei sehr unterschiedlich aussehen, als hätte man aus jedem europäischen Land ein paar Menschen zusammengebracht und sie sich entwickeln lassen (was ja de facto auch so war), sind die Chilenen viel eher diese “typischen” Südamerikaner mit dunkler Haut und schwarzen Haaren bei überschaulicher Körpergröße. Das hat sich spontan viel eher nach einem anderen Kontinent angefühlt und ich kann mir kaum ausmalen, wie es für dich bei deiner Ankunft gewesen sein muss. Und dahinter steckt so viel Geschichte, so viele GeschichteN. Während ich in Buenos Aires ein bisschen Zeit brauchte, um die gemeinsame argentinische Identität zwischen all den unterschiedlichen Menschen zu entdecken, kam in Chile gleich ein gewisses Gefühl rüber: Für die chilenische Geschichte, für die chilenische Gesellschaft und für die chilenische Lebensweise.

Ich saß eine halbe Stunde auf dem Plaza de las Armas im Stadtzentrum und habe mich bei einem Eis umgeschaut. Es ist der Hauptplatz in Santiago, umgeben von historischen Gebäuden und voll bepflanzt mit Palmen und Büschen und so voller Leben, dass man erst ein bisschen überfordert ist. Im Vergleich dazu ist der Plaza de Mayo vor der Casa Rosada in Buenos Aires geradezu ausgestorben (denn da stehen eigentlich nur fotografierende Touristen). In Santiago hingegen wurde ich beschallt von einem religiösen Chor, der unermüdlich Lieder in die (unaufmerksame) Menge schmetterte und sich mit einem Mann battelte, der einige Meter weiter lauthals Stellen aus der Bibel frei und mit Sicherheit sehr interpretationsfreudig rezitierte. Da saßen junge Frauen in sehr kurzen Röcken auf der Bank mir gegenüber, einige Unitexte auf den Knien und Coffee-to-go-Becher in der Hand. Neben mir ein Pärchen mit schreiendem Kind, daneben wiederum ein alter Herr mit Gehstock und Mütze, andächtig in den Himmel blickend. Der Geruch von Marihuana wehte von irgendwoher zu mir rüber und das obwohl ein paar Meter zwei Polizisten sich die Beine in den Bauch standen. Ein Junge verteilte Flugblätter, auf die er etwas gemalt hatte und die man gegen ein kleines Geld kaufen sollte, um sein Mittagessen zu finanzieren. Ein Herr im Anzug, der gerade noch auf seinem Iphone herumgetippt hatte, gab ihm einen Schein. Eine Frau hatte ihr Kind mit einem bunten Tuch auf den Rücken gebunden und lief an mir vorbei, wurde dabei überholt von zwei jungen schwarzen Männern, die wild gestikulierend redeten. Ich war dort wohl die Hellhäutigste von allen, aber fühlte mich bei meinen Beobachtungen so unbeobachtet als wäre ich genauso wie die meisten hier. Nur ein paar Jungs starrten rüber, aber was solls, das hatte ich auch schon anders erlebt. All das kann ich auch in Buenos Aires sehen und erleben, aber um so viel unterschiedliche und zugleich gemeinsame Kultur auf einmal zu sehen, müsste ich schon lange durch viele Viertel laufen.

An Buenos Aires erinnert fühlte ich mich vor allem beim Essen – und zwar nicht beim Besten. An jeder Ecke gibt es “Completos” zu kaufen, die südamerikanische Version von Hotdogs. Immerhin habe die Chilenen sich dazu entschieden, sie ein bisschen aufzupeppen, ganz im Gegensatz zu den Argentiniern. Während ich “bei mir drüben” nur die arme Variante mit Ketchup und Röstzwiebeln bekomme, gibt’s bei dir wenigstens noch viel Avocado und Tomate oben drauf. Klingt erstmal gewöhnungsbedürfti, ist aber eigentlich ganz geil. Das kulinarische Highlight unserer Reise war es aber trotzdem nicht (zum Glück kam da noch der Fisch an der Küste). An ihrem Nationalgericht müssen die Chilenen wohl noch ein wenig arbeiten. Die Argentinier haben ja wenigstens ihr Fleisch!

Ich weiß auch, dass Santiago an dem ein oder anderen Tag anstrengend sein kann.  Es ist bestimmt nicht immer schön und durch ihre Größe ist die Stadt natürlich eher anonym. Da seinen Platz zu finden, stelle ich mir schwierig vor. Aber ich habe auch gemerkt, wie absolut gut du das hingekriegt hast! Das Beste ist einfach, und jetzt seien wir mal ehrlich, dass Chile der absolute Natur-Jackpot ist! Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus, als wir mit dem Auto Richtung Anden fuhren und dann innerhalb einer Stunde einfach weg waren! Weg aus all dem Großstadtchaos, weg vom Smog, weg von den vielen Menschen. Einfach auf die Berge (Gruß an Carina) zu fahren – die Anden! Ich kann es gar nicht oft genug sagen – und rein in die Natur, durch ein Tal das uns immer weiter Richtung argentinische Grenze bringt und dabei hinter jeder Kurve für einen neuen Atemlos-Moment sorgt. Der Tag im Cajón del Maipo und beim Embalse del Yeso war eindeutig das Highlight meiner Reise zu dir, denn irgendwie war es so pures Südamerika, wie ich es in den Wochen zuvor auf dem Kontinent noch nicht gefühlt hatte. Auch wenn wir dabei nur zu zweit waren und die einzigen, mit denen wir sonst noch geredet hatten, die Verkäufer der Cola am Straßenrand waren und einige andere Touris zwecks Fotos, ist das Land da so richtig in meinem Kopf und Herzen angekommen. Der perfekte blaue Himmel, die Schotterstraße, die Kakteen am Straßenrand, die schneebedeckten Berge und die zugefallenen Ohren beim höher und höher Fahren. Was diesen Ausflug noch unglaublicher machte, war die Tatsache, dass wir am nächsten Tag gleich weiter nach Valparaiso ans Meer fuhren. An den Pazifik (auch das muss ich unterstreichen: der Pazifik!!), der von Santiago nur ca. 150km entfernt ist und von besagten Bergen am Vortag vielleicht 200km. Auf so einem kleinen Raum befindet sich in Chile so viel landschaftliche Diversität, dass sich meine Stimme beim davon Reden vor Begeisterung wohl überschlagen würde. Wenn ich ab Buenos Aires 2h im Bus fahre, befinde ich mich noch immer auf irgendeiner Autobahn in einer angrenzenden Stadt und kann nur Häuser weit und breit ausmachen. Von den Bergen und dem Schnee an fast schon tropische Strände am windigen Ozean, das haben wir innerhalb weniger Stunden hingekriegt und das geht so wohl nur in Chile. Wenn das mal nicht gigantisch ist, dann weiß ich auch nicht!

Gracias jedenfalls an dich, Tomke, dass du mir deine vorübergehende Wahlheimat gezeigt hast. Es hat mir so gut gefallen, denn es ist so anders als Buenos Aires und hat seinen ganz eigenen Charme. Trotzdem war es für mich schön, wieder zurückzukommen. Das Weg-Sein zeigt einem selbst ja oft am besten auf, was man an der eigenen Stadt schätzt. Das hat mir gut getan!

Ich sende dir Grüße nach drüben über den Kontinent und natürlich auch an alle anderen auf der Welt, die jetzt vielleicht ein wenig Lust auf Chile bekommen haben. Es ist dort fast genauso gut wie in Argentinien…

(Fotocredits natürlich an dich, du Fotografin 😉 )

 

2 thoughts on “Ein Brief an Tomke, und an Chile, und ein bisschen an mich selbst.

  1. Oh Charlotte, ich liebe wie ich Deine Begeisterung in Deinem Text lesen kann. Wie Du, bin ich unglaublich fasziniert von der landschaftlichen Vielfalt und kann es gar nicht erwarten Eure Fotos mit all den Erzählungen präsentiert zu bekommen.
    Und die Berge! Ich bin begeistert, unglaublich schön.

  2. Querida, danke für deinen lieben Brief! Es hat richtig Spaß gemacht ihn zu lesen und nochmal in Erinnerungen zu schwelgen. Ich freue mich, dass es dir hier “bei mir” in Chile gefallen hast und du mit vielen schönen Erinnerungen ins hippe Buenos Aires zurückgegangen bist. Ich hätte mit keine bessere Reisebegleiterin wünschen können. Die wilde Fahrt in die Berge war tatsächlich auch mein Reise-Highlight 🙂 Mucho amor desde Santiago

Leave a Reply to Tomke Cancel reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *