Besuch von der Osterinsel

Mit etwas schlechtem Gewissen habe ich festgestellt, dass seit meinem letzten Blogeintrag schon mehr als ein Monat vergangen ist. Das liegt allerdings nicht daran, dass in den letzten vier Wochen nichts Neues, Aufregendes oder Erzählenswertes passiert wäre, sondern vielmehr daran, dass so viel passiert ist, dass ich keine Zeit gefunden habe, meine Gedanken zu sammeln und auf “Papier” zu bringen. Es brennt mir zwar gewaltig unter den Nägeln, von Charlottes und meinen Reisen in Argentinien, Uruguay und Chile zu berichten, allerdings möchte ich die Chronologie wahren und zunächst mit einer anderen Geschichte fortsetzen, die mir sehr am Herzen liegt. Die Rede ist von Bene Tuki Pate, einem waschechten Rapa Nui von den Osterinseln, der im September für drei Wochen bei uns im Haus zu Gast war.

Anfang September erfuhren meine Mitbewohner und ich, dass wir für drei Wochen Besuch von Panchos Ziehvater, einem “älteren Mann von der Osterinsel” bekommen würden. Er würde bei seinem jährlichen “Festlandsbesuch” zu Felipe in das Hinterhäuschen ziehen. “Nur” die Küche und das Wohnzimmer würden wir uns in dieser Zeit mit dem Besucher teilen müssen. Weder Felipe noch Pancho hatten es für notwendig gehalten, uns im Voraus über den Besuch zu informieren. Von Isidora, Panchos Stieftochter, wurde uns der noch unbekannte Besucher als “schwierig” und “etwas merkwürdig” beschrieben. Man kann sich also gut vorstellen, dass wir dem bevorstehenden Besuch kritisch gegenüber standen. Rückblickend kann ich über meinen Ärger, von Felipe und Pancho übergangen worden zu sein, nur lächeln. Bene hat unser Zusammenleben im Haus unglaublich bereichert – in menschlicher, kultureller und kulinarischer Hinsicht. Die Osterinsel, die für mich vorher nur ein kleiner grüner Punkt inmitten des Pazifiks gewesen ist, irgendwie fremd und unerreichbar, hat für mich nun persönliche Bedeutung gewonnen und meine Neugier geweckt.

Es brauchte einige Tage des misstrauischen gegenseitigen “Beschnupperns”, bis sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den Bewohnern des Hauses und dem Besucher von der Osterinsel entwickelte. Nachdem das Eis geschmolzen war, stellte sich Bene als ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler heraus, der seine vielen Erlebnisse gerne abends bei einem Glas Wein mit uns teilte. Von Felipe erfuhren wir, dass wir nicht “irgendeinen Rapa Nui” vor uns sitzen hatten, sondern einen der bekanntesten und angesehensten Künstler der Insel, der sich auch schon international einen Ruf erworben hatte. Benes Skulpturen aus Holz und Stein sind an Plätzen und in Ausstellungen auf der ganzen Welt zu sehen. Zusammen mit seinem 96-jährigen Vater geht er bis heute seiner Leidenschaft, der Bildhauerkunst, nach. Zusammen mit seiner Frau leitet er zudem ein Hostel auf der Insel und bietet Touristen Ausflüge und Bootstouren an (Diese würde ich jedem ans Herz legen, der zu der Osterinsel reist!). Es lässt sich kaum eine Dokumentation über die Osterinsel finden, in der Bene und seine Arbeiten nicht zu sehen sind. Ich muss zugeben, dass ich schwer beeindruckt von unserem Gast und seiner Arbeit war. Einmal mehr war ich dankbar dafür, dass ich dieses Haus gefunden hatte, das mir diese besondere Erfahrung ermöglichte.

Bene erwies sich in den drei Wochen seines Besuchs als ein unkomplizierter und respektvoller Mitbewohner, der seine Geschichten und sein Essen (Fisch von den Osterinseln und das nicht zu wenig…) gerne mit uns teilte. Seine spannenden Erzählungen von der Osterinsel ließen uns über den strengen Fischgeruch aus dem Kühlschrank, den toten Fischaugen, die uns aus der Mülltonne anstarrten und dem Berg an schmutzigen Geschirr gutmütig hinwegsehen. Die meiste Zeit des Tages verbrachte Bene draußen auf der sonnigen Terrasse, wo er kleine bis mittelgroße Moai-Statuen aus Holz schnitzte. Moai werden die berühmten monumentalen Steinstatuen genannt, die das Bild der Osterinsel prägen und auf keiner Postkarte fehlen dürfen. Manchmal setze ich mich mit einem Tee zu ihm und sah ihm dabei zu, wie er das tote Holz innerhalb weniger Stunden in eine schlanke Moai-Skulptur verwandelte. Meine Freude war riesig, als Felipe mir versprach, dass wenn ich ein geeignetes Holz finden würden, Bene mir eine kleine Moai schnitzen würde – zum Preis von einem Asado. Die Suche nach einem geeigneten Holz für Bene erwies sich allerdings schwieriger als gedacht. Die ersten Versuche landeten zu meinem großen Bedauern auf dem Holzstapel für das geplante Asado. Das Endergebnis hat mich jedoch die lange Wartezeit und Suche nach geeignetem Holz vergessen lassen. Meine Moai hat die Größe von meinem Oberarm, sie ist schlank und aus hellen, ebenmäßigen Holz. Sie ist nicht nur ein handgefertigtes Unikat von einem bekannten Künstler der Osterinsel, sondern auch eine wundervolle Erinnerung an meinen Aufenthalt in Chile. Muchísimas gracias, Bene!

Allerdings mussten wir auch die Erfahrung machen, was Isidora mit “schwierig” gemeint hatte. Gegenüber Clement, unserem Franzosen, äußerte sich Bene wiederholt abfällig über die französische Kultur. Die Deutschen wiederum, die auf die Osterinsel kämen, seien “gute Kunden” und würden seine Arbeit zu schätzen wissen. Auch die Chilenen, die Nicht-Insulaner, waren häufig Angriffsfläche von Benes verbalen Attacken. Am meisten schockierte uns jedoch Benes Äußerung gegenüber Chama, unserer Marokkanerin, wonach alle Muslime Terroristen seien. Daraufhin hatte Chama den Raum verlassen und zwei Tage kein Wort mehr mit Bene gesprochen. Pancho und Felipe versuchten die Situation zu schlichten: Bene sei in vielerlei Hinsicht “como un niño” (wie ein Kind), das alle Informationen aus dem Fernsehen unhinterfragt und unreflektiert aufnehme. Bene kam schließlich zu der Einsicht, dass er mit seiner Äußerung gegenüber Chama zu weit gegangen war, und schenkte ihr als Entschuldigung eine “Moai de la Paz” (eine Moai des Friedens). Damit war der Frieden im Haus wieder hergestellt.

Mitte September erhielten meine Mitbewohner und ich die Möglichkeit, Felipe und Bene auf ein Fest der Rapa Nui-Gemeinschaft in Santiago zu begleiten. Dieses fand in der Nähe des Maipo-Tempels ganz im Westen der Stadt statt – ein Ort, den ich ohne die Einladung wohl nie zu Gesicht bekommen hätte. Auf dem Fest erwartete uns das typische Essen der Osterinsel, das sogenannte “Curanto pascuense” oder “Umu Rapa Naui”. Für die Zubereitung des Essens wird ein Erdloch ausgehoben und mit großen Steinen ausgelegt. Anschließend wird über den Steinen ein großes Feuer errichtet, das im Laufe des Tages herunterbrennt und die Steine erhitzt. Die heißen Steine werden anschließend mit großen Bananenblättern bedeckt, auf denen das Essen, vor allem Fisch, Fleisch und Kartoffeln, zubereitet wird, das wiederum mit Bananenblättern bedeckt wird. Durch die Hitze der Steine gart das Essen in einem langsamen Prozess, was das Curanto zu einem gemeinschaftlichen Tagesevent macht. In der Wartezeit und nach dem Essen wurde uns ein buntes Programm aus stimmungsvoller Musik und Tänzen von der Osterinsel präsentiert. Erst als es dunkel wurde, machten wir uns auf den Weg nach Hause.

Ich bin froh, dass Bene uns für drei Wochen besucht, uns an seiner Erzählungen und an seiner Arbeit hat teilhaben lassen und uns in die vielen Geheimnisse der Osterinsel eingeweiht hat. Auch wenn es nicht immer einfach mit Bene war, mussten wir nach seiner Abreise doch zugeben, dass wir ihn vermissen werden – vor allem sein durchdringendes “FELIPEEE!!”, wenn wieder Zeit zum Essen war. Ich hoffe sehr, dass ich die Osterinsel eines Tages selbst besuchen kann.

Lorana! (Das heißt “Tschüss” auf Rapa Nui)

 

One thought on “Besuch von der Osterinsel

  1. Was für eine irre Geschichte, Tomke, was für eine tolle Erfahrung.
    Da hast du einfach mal wieder richtig Glück gehabt! Und die Bilder sind natürlich ebenfalls vom Feinsten, merci, dass du uns dran teilhaben lässt.
    Grüße von drüben 🙂

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