Orte meiner argentinischen Lebens(er)haltung – 1

Das Leben in einem anderen Land ist stets anders als alles Andere zuvor.

Man kommt zwar mit seiner eigenen Persönlichkeit an, mit seinen gefestigten Gewohnheiten, Vorlieben und Macken, doch dann prallt man mit den Eigenschaften des neuen Zuhauses aufeinander und schmeißt alles über den Haufen.

Buenos Aires hat einen eigenen Rhythmus, eine besondere Denkweise und einzigartige Gewohnheiten. Ja, jeder einzelne Mensch hier prägt das Bild und den Charakter der Stadt, doch auch die Straßen und die Kultur beeinflussen ihre Bewohner. Ein ewiges Wechselspiel und ich mittendrin. Mit meinen Vorstellungen und Ideen kam ich hier an und stellte schnell fest, dass mein Leben gänzlich unterschiedlich sein würde von allen “bisherigen Leben”, die ich in der Vergangenheit schon gehabt hatte. Buenos Aires gibt mir eine ganz eigene Art und Weise an die Hand, die ich zunächst vielleicht gewöhnungsbedürftig fand, inzwischen aber ganz akzeptabel und auch schön. Mehrere Orte prägen meinen Tagesablauf ganz besonders, und von jenen, die mir mein Studium ermöglichen (oder auch eben nicht), möchte ich jetzt erzählen.

Ich bin nach Buenos Aires – natürlich – zum Studieren gekommen. Die UNTREF (Universidad Nacional de Tres de Febrero) ist eine kleine Universität, deren Masterangebote ziemlich interessant und spezialisiert sind. Ich habe das große Glück, quasi aus allen möglichen Studiengängen jene Kurse auswählen zu können, die besonders gut zu meinem Profil passen. Ich habe mich hauptsächlich für Kurse aus dem Master zu Migrations- und Asylpolitik entschieden. Allerdings sollte ich auch, der Fairness wegen, erwähnen, dass sich meine Unizeiten in Grenzen halten. Bisher habe ich nur einen Kurs pro Woche, der dann zwar 4h am Stück dauert, doch ich kann mich wirklich nicht beschweren. Das Lesepensum ist groß, aber machbar, wöchentlich muss ein kleiner Essay abgegeben werden, der jedoch unbenotet bleibt. Ja, ich muss was für die Uni tun – aber mir bleibt auch noch genug Zeit, für richtigen Freizeitstress. Nichtsdestotrotz ist das Institut hier natürlich ein großer Teil meines Buenos Aires-Lebens, denn es ist gänzlich unterschiedlich zu anderen Universitäten.

Das Politikinstitut befindet sich nicht am Hauptsitz der Uni, sondern in einem ganz normalen Wohngebäude im achten Stockwerk. Dort gibt es drei Büros, eine Bibliothek mit gefühlt 50 Büchern und hauptsächlich leeren Regalen und einen einzigen Unterrichtsraum mit schlechter Luft. Gemeinsam mit meinen Kommilitonen sitze ich dann ein Mal die Woche von 18 bis 20 Uhr auf kleinen Stühlen mit einem hochklappbaren Tisch, der an der Seite angebracht ist. Jene Stühle, die ich noch aus der Grundschule kenne und die damals in der zweiten Klasse aussortiert wurden. Besonders viel Platz, um sich kreativ auszubreiten, bleibt da nicht. Muss aber auch gar nicht, denn es wird hauptsächlich diskutiert und dem Dozenten zugehört. Die anderen Studenten sind alle älter als ich, sie arbeiten bereits und sind als Anwälte, Sozialarbeiter oder in der nationalen Administration tätig. Einen Master zu machen ist für sie schon Luxus und wird als eine Art Fortbildung verstanden, denn sie haben täglich mit dem zu tun, worüber wir lesen und reden: Die Integration und Sozialisierung von Migranten, vor allem aus den angrenzenden Ländern, und die Vorurteile ihnen gegenüber. Wir sprechen viel über Erfahrungen, Fakten und aktuelle Zahlen. Zum Beispiel darüber, wieviele Einwanderer tatsächlich die Jobs der Einheimischen “besetzen”, ein Argument, das hier genauso vorhanden ist wie überall sonst auf der Welt. Mir gefällt es wirklich gut, Statistiken und Grafiken zu sehen, die die Gegebenheiten anschaulich darstellen und mir eine Idee davon geben, wie die soziale und wirtschaftliche Situation Argentiniens aussieht. Natürlich möchte ich die Theorien zu sozialer Ungleichheit, kulturellen Veränderungen und sozialen Problemen, wie wir sie in Konstanz besprechen, nicht missen – doch die Lehre hier ist erfrischend anders (für mich). Der Kurs wird von mehreren Dozenten gehalten, zunächst zum Beispiel von einer Politikwissenschaftlerin, dann von einer Soziologin, schließlich gestern von einer Psychologin. Das macht den Inhalt sehr vielseitig, manchmal etwas zusammenhanglos, aber dabei trotzdem immer interessant.

Die Uni in Buenos Aires ist besonders für mich aufgrund vieler unterschiedlicher Faktoren: Die erfahrenen Kommilitonen, die mir durch ihre Beiträge schon den ein oder anderen Aha-Moment bescheert haben, der triste Unterrichtssaal mit riesiger Beamerleinwand, die quasi leere Bibliothek die mich bei meiner Literaturrecherche für die bevorstehende Hausarbeit wohl vor eine große Herausforderung stellen wird und schließlich die Kaffeepause abends um 20 Uhr, die meinen Rhythmus absolut undeutsch macht – in Deutschland habe ich ja noch nicht mal mehr nachmittags Kaffee getrunken, aus Schlaf- und Vernunftgründen… Schlafen ist aber eben auch keine Alternative, wenn ich schon mal dort bin.

Apropos Rhythmus: In Deutschland bin ich ein Bib-Lerner, denn nur zwischen tausenden Büchern und mit anderen Leidensgenossen um mich herum verspüre ich tatsächlich den Druck, jetzt endlich mal den Text für den kommenden Kurs zu lesen. Wie gerade schon beschrieben, ist die Bibliothek hier vor Ort ein denkbar unpassender Ort dafür, nicht zuletzt wegen der kurzen Öffnungszeiten. Zuhause kann ich mich kaum motivieren (abgesehen davon, dass ich eigentlich keinen Grund zum Aufstehen habe, da ich ja eh erst abends an der Uni sein muss). Deshalb musste eine Alternative zum Arbeiten her und die habe ich sehr schnell in Cafés gefunden. An jeder Ecke gibt es Cafés, große, kleine, alte, schicke, hippe, dunkle und helle. Und in jedem davon sitzt immer irgendwer mit Laptop und arbeitet. Da geselle ich mich gerne und oft dazu, denn so ein netter Arbeitsplatz ist die perfekte Quelle nicht nur für Motivation und Kreativität, sondern auch für Kuchen, Limonaden und an dem ein oder anderen Tag für Mittagsmenüs. Die Argentinier lieben ihre Eckkneipen genauso wie schicke Restaurants, trendige Cafés im New-York-Style oder “cantinas”, große weitläufige Cafés mit alten Holztischen und wackeligen Stühlen. Zu jeder Tageszeit wird dort gegessen, geredet oder gelesen, am Morgen mit Medialunas (winzige Croissants, die Franzosen beim Anblick sicherlich traurig stimmen), am Mittag mit Milanesas (wie ein deutsches Schnitzel, nur anders) und am Nachmittag mit Empanadas (eine gefüllte Teigtasche, deren Beschreibung unmöglich ist und die nur selbst getestet werden kann) und Bier aus 1l Flaschen. Dann sitzen dort ältere Damen und Herren, die aus dem Fenster starrend zwei Stunden bei einem Espresso verbringen, Geschäftsmänner mit bunten Krawatten, die auf Tabletcomputern rumtippen, Familienväter mit ihren Kindern und deren Hausaufgaben oder deutsche Studentinnen, die auf Bibliotheks-Ersatz-Suche sind und stattdessen täglich neue Beobachtungsposten finden.

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