Deutschland in Sicht

Heute vor vier Monaten bin ich abgereist. Ich weiß, dass es einigen von uns gleich geht: Wo ist die Zeit geblieben? Ist es so schnell vorbei? Ich habe doch noch so viel vor… Nicht nur einige kleine Reisen oder Besichtigungen habe ich aufgeschoben, sondern auch ein Eintrag hier im Blog, das ich jetzt mal mit den Ausreden wie: Hausarbeiten, Referate, Reisen, Haushalt entschuldige.

Gestern nach dem letzten Uni bzw. Institutstag habe ich gemerkt, dass ich bald nach Hause fliegen werde.

Ehrlich gesagt hat mich die letzte Sitzung mit meiner lieben Professorin Frau Pizarro und den Kommilitonen in Begleitung mit viel Wein und Knabberzeug schon traurig gemacht. Nach der allerletzen Sitzung sind wir in die Stammkneipe mit unserer Forschungsgruppe, wie fast jeden Dienstag und genau dort macht es Klick: Esra du gehst bald! Ich könnte meine Gefühle hinsichtlich meiner Abreise gerade mit por un lado y por otro lado anfangen zu beschreiben, aber das erspare ich jetzt. Ich möchte hier aber vor meiner Peru Reise noch mein Alltag aufzeigen, welcher sich in Deutschland wieder ändern wird. Heute, nach vier Monaten wird mir bewusst, mit welchen Fragezeichen ich hergekommen bin und was sich hier im Alltag geändert hat. Da ich jetzt aber für meine Heimkehr genau weiß ich, was sich in Deutschland wieder alles umwandeln wird möchte ich hier eine lange aufgeschobene Liste von mir vorstellen…

Einkaufen: Ich werde in Deutschland nicht mehr jeden Donnerstag oder Sonntag auf die feria gehen können, wo ich die besten Obst- und Gemüsesorten bei den Stammhändlern für viel billiger und einfach hormonfrei bekomme. (Hierzu folgt evtl. noch ein spezieller Eintrag)

Ich werde nicht mehr auf den riesengroßen und von menschenüberfüllten Bazar gehen können, wo ich mir billigere Blusen und Sportsachen kaufen kann. Auch werde ich das Handeln immer auf den Türkei Urlaub verschieben müssen.

Wie gewohnt werde ich wieder zu H&M, Zara und zu den sportlichen ‚Outletstores‘ gehen.

Ich werde nicht mehr von den Sonderpreisen als Stammkundin im Copy shop oder beim Kiosk profitieren können.

Ich werde für meine Pflegeprodukte nicht mehr das Doppelte zahlen und auch alle wieder finden.

Nicht mehr im Jumbo, sondern im Lidl oder beim Edeka werde ich einkaufen, wo ich meine Tüten wieder selber einpacken muss und nicht warten muss, bis die jungen Leute in Zeitlupe all meine Wasserflaschen und den überteuerten Käse einpacken. Auch werde ich beim Einkaufen nicht mehr überrumpelt werden, da sogar am Vorfeiertag in Deutschland weniger Menschen einkaufen, als hier am Nachmittag.

Verkehr: Apropos Menschenmasse: Ich werde wieder einen humanen Stehplatz in der Metro bzw. in der U-Bahn haben, sodass mein Platzangst und Atemnot weniger einsetzen wird. Ich werde keine lustigen Abenteuer in der micro mehr haben, sondern werde langweilig Bus fahren, wo in Deutschland sogar alle Haltestelle ersichtlich sind und zusätzlich sogar mit Fahrplan ausgestattet sind, was hier nicht der Fall ist.

Die Reisebusse, wenn ich überhaupt damit in Deutschland fahren werde, werden pünktlich abfahren, weniger Pannen haben und ordentlicher fahren.

Ich werde als Fußgängerin bei Rot stehen bleiben und bei Grün laufen. Hier kann es eine Weile dauern, bis man auf einen Fahrer wartet, der auf die Idee kommt, bei Rot mal anzuhalten, damit die Fußgänger über die Straße können.

Die Huperei wird mir auf den Straßen fehlen.

Auch werde ich wieder überall teure Autos  sehen können und nicht nur in den elitären Gegenden sowie es hier der Fall ist.  Die meisten Autos und öffentlichen Verkehrsmittel werden auch wirklich verkehrstüchtig sein und keinen HU-Bericht aus dem Jahr 2002 haben.

Ich werde wieder wie gewohnt ganz viel Auto auf den gepflegten und sauberen Straßen in Deutschland fahren.

Kultur:

Sprache: Ich werde in Deutschland wieder eine Sprachenvielfalt erleben, denn hier hört man trotz vieler Ausländer eben nur Spanisch, denn die extranjeros sind auch Latinos.

Ich werde meinen Familiennamen wieder mit einem „ü“ angeben können, anstatt mit einem „u“.

Mein Vorname wird wieder richtig ausgesprochen werden.

Wenn ich neue Menschen (außerhalb der Uni) in Deutschland kennenlerne und ich Ihnen erzähle, dass meine Eltern aus der Türkei kommen, werden sie mich nicht fragen, ob ich arabisch kann und wo die Türkei liegt.

Wenn ich Menschen treffe, die die Türkei kennen, werden sie mich nicht mehr mit ihrem exotischen Blick anschauen und fragen, ob das Leben dort auch wirklich so ist, wie sie hier in den telenovelas (Sultan Süleyman, Sila, Medcezir) gezeigt werden. Sie werden mich nicht fragen, ob ich ihnen paar Wörter beibringen kann. Sie werden mich nicht anstarren und sagen „Erzähl was von deinem Land“, denn in Deutschland werde ich  wieder die eine von den drei Millionen sein.

Ich werde keine Mischung mehr aus Deutsch und Spanisch zu Hause reden (Code-switching).

Wenn ich in Deutschland Spanisch rede, werde ich kein sipo und cachai mehr sagen.

Essen: Ich werde wieder bestimmt mehr Essen gehen. Zugegeben: ich bin auch sehr wählerisch, aber in Deutschland werde ich weniger Angst vor meinem bestellten Essen haben, ob es auch nicht so fettig ist oder nicht richtig durchgebraten ist oder eben nicht gut ist.

Ich werde an jeder Ecke einen original italienischen Espresso trinken können und jeden Kuchen genießen.

Ich werde nicht um etwas Schmackhaftes zu essen oder zu trinken die elitären Gegende aufsuchen müssen, sondern auch einfach mal was vom Bäcker genießen können.

Keine empanadas, sondern Brezel werde ich essen.

Ich werde mein Avocado-Konsum reduzieren müssen.

Ich werde wieder ganz viel Milka und Kinder-Schokolade essen können.

Rechnungen: Ich werde Rechnungen und auch die Miete wieder online bezahlen. Keine Schlangen stehen und mich nicht aufregen.

In Deutschland werde ich wieder immer am Monatsende knapp bei Kasse sein, obwohl ich arbeiten werde.

Lautstärke: In Deutschland werden sich meine Ohren wieder erholen können, da ich dort wieder die Auswahl zwischen ruhigen und lauten Gegenden haben werde.

Ab 22 Uhr wird hoffentlich wieder Nachtruhe herrschen.

Ich werde keine schreiende Kinder nachts um 23.46 Uhr im Park spielen sehen oder hören.

Straßen/ Sicherheit: Ich werde wieder einen Geldbeutel mit all meinen Karten mit mir tragen und keinen Beutel, mit dem nötigen Bargeld und den wichtigsten Karten wie meine Metrokarte und mein chilenischer Ausweis.

In Deutschland werde ich nicht so oft meine Ausweisnummer angeben müssen.

Ich werde auch wieder Polizisten sehen, die bei falsch überholenden Autos die Fahrer anhalten, die nicht nur essen und rumstehen, sondern arbeiten oder auch mal bei Diebstahlfällen wirklich eine Anzeige erstatten.

Ich werde nicht mehr in jedem Laden, in der Apotheke oder an der Straßenseite securities sehen.

Die Hochhäuser werden keine Kameras und keine großen Tore mit einem Sicherheitsdienst haben.

Ich werde kein Schmuck mehr auf der Straße kaufen können.

Ich werde beim Joggen nicht mehr über irgendwelche kaputten Bordsteine stolpern.

Mir werden die Bauarbeiter auf der Straße egal ob ich Tüten schleppe oder Sport mache nicht mehr hinterherpfeifen.

Ich werde saubere und gut gebaute Straßen sehen.

Ich werde nicht mehr so viele Menschen auf der Straße leben und betteln sehen.

Ich werde keine Straßenhunde mehr sehen.

Wetter: Ich werde mich nicht mehr wie eine „Zwiebel“ anziehen müssen. In Deutschland wird es kalt sein und kalt bleiben. Ich werde mich nicht im Oktober und November mit einem Top, dünnen Pulli, Strickjacke, Schal und ein dünnen Jacke ausrüsten und dann stündlich mit steigenden Temperaturen immer etwas ausziehen und umgekehrt: gegen Sonnenuntergang wieder langsam alles anziehen müssen. In Deutschland werde ich wieder alle zwei Tage den Wetterwechsel erleben und nicht mehr stündlich.

Es wird keine Temperaturdifferenzen von morgens 8 auf mittags 32 Grad geben.

Im Dezember wird es kein Sommer, sondern Winter geben.

Natur: Die Sonnenuntergänge werden wieder andere rosa und orange Töne haben.

Ich werde wieder eine saubere Luft genießen können und ganz viele schöne Bäume und Blumen sehen.

Ich werde auf meinem Balkon keine tolle Anden Aussicht mehr genießen können und die Berge von jeder Ecke der Stadt beobachten können.

Ich werde kein Erdbeben mehr in Deutschland erleben.

Uni: Ich werde in Dtl. keine Seminare mehr von 18.30 bis 21.30 Uhr haben.

Ich werde wieder auf dem Campus sein und nicht in einem kleinen Institut. (Hierzu folgen noch mehr Infos).

Ich werde wieder in die Bib gehen, wo mich eine große Auswahl an Büchern und Ruhe erwarten wird. Und Internet. Und Drucker. Und auch am Wochenende. Sowie man sich eine Uni-Bib eben vorstellt.

Ich werde kein Vermögen mehr für Kopien ausgeben. Ich werde in Deutschland wieder selber drucken können.

Über das Quellen bzw. Literaturverzeichnis werde ich mich in Deutschland nicht mehr aufregen, denn die Bibliographie wird wieder eine alphabetische Reihenfolge haben und mit Jahreszahlen und Autorennamen versehen sein.

Ich werde Hausarbeiten in der Vorlesungsfreien Zeit schreiben dürfen.

Ich werde zu allmöglichen Treffen (Referate, Forschung oder Sprechstunden) in Deutschland wieder pünktlich erscheinen ohne die chilenische Verspätung + min. 20 min dazuzurechnen.

Ich werde meine Dozenten und Profs wieder Sie-zen und Ihnen keine Küsschen mehr geben.

Allgemein: Das Konzept des Vermissens, dass sich bisher von Chile nach Deutschland erstreckt, wird seine Richtung in Deutschland wechseln.

Mir werden in Deutschland die lustigen Kneipenabende und die lehrreichen Gespräche in den Seminaren fehlen.

Ich werde in Deutschland in den Gesprächen über Lateinamerika bewusster und reflektierter teilnehmen.

Ich werde in Deutschland in den Gesprächen über Lateinamerika nicht mehr den von mir seit langen Jahren ausgesprochenen Wunsch „Ich will nach Chile“ äußern, sondern ich werde endlich erzählen können: „Als ich in Chile war…“

2 thoughts on “Deutschland in Sicht

  1. Sehr spannend, von deinen Eindrücken zu lesen! Ich freue mich schon, wenn wir in Konstanz den Abgleich Chile-Argentinien machen… Vielleicht eine Art Ranking, um zu gucken, welches Land nach ausführlichen Abwägen von Pro und Contra vorne liegt? 😀 Und sehr geil, dass es für dich nach Peru geht! Zusammen mit Chrissy? Besos from the other siiiiiide #adele

  2. Darauf freue ich mich auch schon 🙂
    Wir haben uns ein Tag mit der Chrisi in Cusco getroffen. Wir waren getrennt unterwegs: sie bei ihrer ehemaligen Gastfamilie und ich auf Tour:)

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