Sprichwörtlich liegen Genie und Wahnsinn bekanntlich ja nah beieinander. Den Orsons zufolge liegen sie sogar miteinander im Bett. Wer hätte gedacht, dass Himmel und Hölle ihnen in nichts nachstehen?
Lake Tahoe ist der zweitmeist fotografierte Ort der USA, übertroffen nur vom Grand Canyon. Josi und ich haben unseren Teil zu dieser Statistik beigetragen mit knapp 700 Fotos. (Zu unserer Verteidigung: Schaut sie euch an. Sie sind wunderschön.) Alles am Lake Tahoe ist fotografierenswert – die Berge, das Wasser, die Bäume und Felsen. Mit dem Lichteinfall verändert sich die Szenerie und hinter jeder Kurve erwartet einen etwas Neues. Zwei Tage lang sind wir staunend und glücklich durch die Natur gewandert. Ich wünschte, ich könnte das in schönere Worte fassen, aber ich glaube die Bilder können dieses eine Mal dem Sprichwort gerecht werden und mehr sagen (Josi ist eine echt gute Fotografin – sämtliche Fotocredits an sie).
Selbstverständlich zieht diese ‘Wildnis’ unheimliche viele Touristen an, die die ‘unberührte Natur’ genau wie wir genießen wollen. Da wir außerhalb der Saison gereist sind, konnten wir auf unseren Fotos sogar so etwas wie Einsamkeit und ‘echte Wildnis’ simulieren. Der Ehrlichkeit halber muss ich aber gestehen, dass einiges los war und es erst ruhig wurde, als wir uns von den Parkplätzen entfernt haben (Amerikaner wandern häufig nicht gerne und wenn, dann nicht weit. Surprise.)
Wasserfälle, Bergketten und klare Seen sind aber nicht das einzige, was Touristen in Mengen an die Ufer des Sees bringt. Lake Tahoe liegt genau auf der Grenze zwischen Nevada und Kalifornien – dem schmalen Grat zwischen Himmel und Hölle. In Nevada ist nämlich, anders als in unserer schönen linken Hippie-Blase, das Glücksspiel erlaubt. Und sobald man die Grenze überschreitet, merkt man: Es ist nicht nur erlaubt, es ist dringend erwünscht. Aus der wunderschönen Uferlandschaft erheben sich riesige Türme von Hotels. Wochenende für Wochenende ziehen tausende Menschen darin ein, ohne auch nur einen Blick auf die Natur zu werfen. Die diversen Hotels und Casinos sind durch unterirdische Gänge miteinander verbunden, so dass man nicht ein einziges Mal Tageslicht sehen muss, wenn man nicht will. Und selbst wenn man will: Ist man einmal in den Casinos drin, ist es schwer wieder raus zu finden. Automatenlabyrinthe wechseln sich mit Shoppingzeilen ab; Rolltreppen bringen einen in immer tiefere Höllenkreise aus denen es kein Entrinnen gibt.
Josi hat versucht, mich auf das vorzubereiten, was da kommen würde, aber ich war trotzdem schockiert. Sicherlich dazu beigetragen hat unsere idyllische Arcade-Erfahrung zu Beginn unseres Wochenendtrips. In Sacramento hatten wir eine Bar gefunden, die Retro-Arcadespiele in netter Atmosphäre anbietet. Ich habe dort meine kindliche Leidenschaft für Flipper wiederentdeckt und wir haben wilde Tekken-Kämpfe ausgetragen. Das alles hat aber mit Casinos herzlich wenig zu tun. Mehr oder weniger traurige Gestalten vor blinkenden Automaten, die immer nur Geld schlucken und nie ausspucken, ist alles, was es da zu sehen gibt. Knapp bekleidete Kellnerinnen servieren Drinks und geben den Leuten das Gefühl, etwas wert zu sein. Wie ein Sieger sieht da niemand aus, nicht einmal das Brautpaar, das im Akkord Geld in einarmige Banditen wirft.
Unser Spaziergang durch diese Unterwelt kam mir surreal vor nach der wunderbaren Natur, die wir den ganzen Tag erlebt hatten. Es war traurig zu sehen, wie Casinos genau darauf ausgerichtet sind, Menschen in ihren schwachen Momenten zu erwischen und ihre Fehler auszunutzen. Schmuckgeschäfte in den Casinos, damit du deinen Gewinn wenn dann direkt bei ihnen ausgibst.
Restaurants mit überteuertem Essen, damit du nicht auf die Idee kommst, das Casino zu verlassen und anderswo zu essen.
Cocktail Happy Hour schon zum Brunch, damit du in Spiellaune kommst und dann über den Tag deinen Pegel halten kannst.
Überhaupt Tag: Künstliche Beleuchtung, die dafür sorgt, dass du jedes Zeitgefühl verlierst und das ganze Wochenende durchspielst.
Säulen, die wie Bäume dekoriert sind, damit das Naturerlebnis nicht zu kurz kommt und du allen erzählen kannst, dass du wirklich am Lake Tahoe warst.
Automaten, die dich damit anlocken, dass ein Spiel nur einen Cent kostet, dann aber einen Mindestbetrag an Einwurf verlangen.
Angestellte, die dich mit großem Respekt behandeln, damit du dich wie ein echter James Bond fühlst.
Und der neunte Kreis der Hölle: ein quietschend buntes, blinkendes Kinder-Casino. Natürlich nennen sie es nicht Kinder-Casino – das wäre ja krank. Man muss aber nur hinsehen, um zu verstehen, was da passiert: Kindgerecht niedrige Automaten und Spiele, die mit Bons gefüttert werden wollen, um zu funktionieren. Die Bons kann man entweder für Geld kaufen oder in eigenen kleinen Spielen erspielen. Anders als in einer Arcade geht es also nicht darum, für das Geld ein Spiel zu bekommen, sondern für das Geld möglichst viele Bons zu gewinnen, um dann spielen zu können und durch die Spiele noch mehr Bons zu gewinnen. Natürlich kann man die Bons nicht am Ende in Geld eintauschen, wie in einem Erwachsenen-Casino – das wäre ja krank. Die Kinder bekommen stattdessen schrottige Plastikspielzeuge, klebrige Süßigkeiten oder – und das ist wirklich der Gipfel der Ironie – ein Monopoly-Spiel.
Die Marketing-Strategien von Casinos liegen definitiv mindestens so nah an der Grenze von Genie und Wahnsinn wie Lake Tahoe an der von Himmel und Hölle. Mein Kontingent an Sprichwörtern und Plattitüden habe ich für diesen Artikel eigentlich schon mehr als ausgereizt, aber einer geht eben doch immer noch: Amerika – das Land der Extreme.
Glücklicherweise konnten Josi und ich dieser Hölle entfliehen und den Aufenthalt am Lake Tahoe mit einem dantesken Aufstieg in die Berge um den Fallen Leaf Lake beschließen.