Remember, remember the 5th of November, the gunpowder, treason, and plot
I know of no reason why the gunpowder treason should ever be forgot.
Yes, indeed, es mag dem beginnenden November geschuldet sein, dass dieses Gedicht in den letzten Wochen immer öfter in meinem Kopf herumgeschwirrt ist.
Es könnte allerdings ebenso an der rauchgeschwängerten Luft, den täglichen Demonstrationen und dem wachsenden Unbehagen liegen, das sich mit jedem Tag zu verschärfen erscheint, an dem Najeeb verschwunden bleibt.
Inzwischen wird außerhalb der entsprechenden Veranstaltung offiziell wenig über den Vorfall gesprochen. Aber überall auf dem Campus kann ich diese kleinen Grüppchen beobachten, deren Gesichter nach anfänglichen Scherzen und dem üblichen freundschaftlichen Geplänkel irgendwann ernst werden, die näher zusammenrücken und entweder noch intensiver beginnen, miteinander zu diskutieren, oder irgendwann ganz still werden.
Ich habe oft das Gefühl, dass es mir genauso geht. In manchen Augenblicken ballen sich so viele Gedanken und Eindrücke aus diesem Land in meinem Kopf zusammen, dass ich gar nicht weiß, wie ich sie schnell genug in Sprache oder Schrift entladen könnte. Da scheint allein die Übersetzung von Gedanke – Körperbewegung – linguistisches „Endprodukt“ – viel zu lange zu dauern. Und dann gibt es diese Augenblicke, meistens genau dann, wenn ich es endlich in einer ruhigen Minute an meinen Laptop oder einen Schreibplatz geschafft habe, in welchen sich eine dumpfe Barrikade gegen den Gedankenstrom aufbaut.
Jaja, ich weiß, miau, Schreibblockaden. Kennt jeder. Aber während wir meistens an diesem Punkt frustriert die Hände am Hinterkopf falten oder uns einen neuen Kaffee machen oder eine Runde joggen gehen und das Schreiben Schreiben sein lassen, komme ich – besonders im gegenwärtigen Kontext – immer wieder an den Punkt, dass ich mich frage, ob diese Barriere nicht auch etwas absolut Schützendes ist. Nämlich, dass nicht jeder sofort und permanent drauflos „müllt“ und die Welt mit seinen narzisstisch-subjektiven Gedanken noch mehr anfüllt und den ohnehin schon chaotischen Verbal-Kosmos noch ein wenig chaotischer macht. Und dabei auch noch denkt, er hätte damit irgendjemandem geholfen.
Vielleicht braucht es diese Blockade ab und zu, diesen kleinen Sieg der Stille und Un-Kommunikation, dass man sich ein klein wenig länger Gedanken um Relevanz und Notwendigkeit machen kann. Vielleicht bräuchte es sie ab und zu sogar noch ein wenig öfter und an den richtigen Stellen. Bei den Redakteuren von der BILD zum Beispiel. Bei diversen deutschen Politikern. Bei der Autorin von „Shades of Grey“ definitiv!
Und ebenso, so kommt mir ab und zu der Gedanke, wenn ich die vielen vielen Plakate an den Uni-Wänden sehe, bei diversen studentischen Aktivisten auf diesem Campus. Ich habe ja schon in meinem letzten Blog geschrieben, wie sehr es mich beunruhigt, dass Najeebs Verschwinden praktisch nur noch auf politischer Ebene inszeniert und instrumentalisiert wird. Dass es nun im Kontext zur grundsätzlichen Muslim-Feindlichkeit in Indien steht, im Zusammenhang zu den anstehenden Wahlen in Uttar Pradesh. Die Palette von Szenarien, was genau mit ihm passiert ist, greift in alle Farbtöpfe; von Entführung durch die Rechten zu Suizid, von einem vollkommen unpolitischen Unfall, bis hin zu seinem Abtauchen mithilfe der Linken, um selbst seinen Fall zum politischen Exempel zu machen. Entsprechend changiert auch die Rolle seiner Mutter von der Haupt-Leittragenden zur gewissenlosen Mitwisserin, zur Eingeweihten, die ihre Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit nutzt, um das Publikum emotional zu manipulieren… Manchmal möchte ich gar nicht mehr wissen, wie die Sache ausgeht.
Und so gerne ich darüber schreiben, davon erzählen möchte, um Eindrücke zu vermitteln, so wie es ja das grundsätzliche Ziel dieses Blogs ist – auch ich stoße immer wieder an diese Blockade. Und vielleicht ist es besser so. Denn was würde meine Stimme in dieser Kakophonie von Meinungen denn groß beitragen? Habe ich nach knappen vier Monaten in diesem unendlich vielfältigen Subkontinent, der mir jeden Tag mit so vielen neuen Facetten begegnet, überhaupt so viele Eindrücke sammeln können, dass ich auf irgendeine Form qualifiziert wäre, eine halbwegs hilfreiche Einschätzung abgeben zu können? Ich denke gerade an die Masse von unterschiedlichen Erfahrungen, von den vielen unterschiedlichen Momenten – die meisten noch immer ganz ungläubig einfach hingenommen, aber noch lange nicht verstanden – und glaube: Nein. Letztendlich habe ich das nicht.
„Ich gehe aus Haiti nicht als Sieger hervor. Meine Aufzeichnungen sind die Aufzeichnungen von Irrtümern, Fehlschlüssen, Kurzschlusshandlungen.“ So wundervoll formuliert es der Schriftsteller Hubert Fichte. Und auch ich habe das Gefühl – aus einem versuchten „Lagebericht“ über die politische Situation, über die Zusammenhänge, könnte ich nie als „Sieger“ hervorgehen.
Es bleibt das Empfinden dazwischen, das Beobachten in dem Wissen, das Erlebte nicht befriedigend kommunizieren zu können und dennoch intensiv davon betroffen zu sein. Und die Lage macht mich betroffen; es ist ein Gefühl der Spannung, die wie der Nebel aus Staub und Smog unter einer großen Glocke seit Tagen über der Stadt, besonders über dem Campus hängt. Ein Gefühl, dass die Verrücktheiten gerade erst anfangen, ein gewisses Misstrauen über Grenzen und Möglichkeiten, über falsch und richtig.
“And the truth is, there is something terribly wrong with this country, isn’t there?“
Auch dieser Satz von V for Vendetta taucht in letzter Zeit häufig in meinem Kopf auf. Nicht nur in diesem Kontrast zwischen grüner Campus-Insel – meiner immer stabileren Komfort-Zone mit Freunden und Welpen und der leckeren Lassi in der Kantine unter dem Gebäude der International Studies – und gleichzeitigem Schauplatz von intensivsten politischen Konflikten, ein Mikro-Kosmos der vielen Auseinandersetzungen außerhalb.
Auch in den Begegnungen mit den Menschen stolpere ich immer über Widersprüchlichkeiten, die ich nach wie vor nicht in vertraute Begegnungsformen einordnen kann – ein kleines Beispiel mit einem unheimlich netten Kostümdesigner eines Filmsets, der mich nach meiner Antwort „I am from Germany” wieder einmal mit einer Reihe von Nazi-Assoziationen überfährt: „Aaah, Svastika, Hitler, Holocaust! You started World War II. And he killed soooo many Jews!” Sein nächster Satz: „What’s your favourite colour?“ geht einem Spaziergang zum nächsten Straßenhändler voraus, wo er mir einen Strohhut in meiner Lieblingsfarbe kauft, nur um anschließend lauthals zu verkünden: „I think, I am in love with this girl“ und wieder auf seinem Filmset zu verschwinden. Zurück lässt er eine stumme Tabea mit blauem Strohhut in der Hand und dem Gefühl, jetzt, in genau diesem Augenblick, wie ein Vogelstrauß den Kopf in einem Loch im Boden verstecken zu wollen.
Indien ist verrückt! Verrückt, verrückt, verrückt, im wahrsten Sinne des Wortes. Hier ist alles ein klein wenig verschoben, nicht ganz in das Bild eingepasst, an das ich gewöhnt bin, das von den Verhältnissen geprägt ist, die ich aus bisherigen Erfahrungen kenne. Und gleichzeitig bin es ich, die für meine Kommilitonen „pagal“ ist. Verrückt.Total, vollkommen, vom Scheitel bis zu meinen kleinen Zehen. Pagal, pagal, pagal, rufen sie, wenn sie mich sehen, mit mir reden. Und lachen herzhaft darüber.
Ich glaube also, das einzige, was ich hier über die „Lage“ auf dem Campus und in Indien aussagen kann, ist, dass sie mehr und mehr anfangen, an meinem Ich zu rütteln. Dass ich merke, wie ich weniger und weniger in der Lage bin, einen Blog über Indien zu schreiben. Weil Indien für mich kein Land, kein Ding, kein Objekt mehr ist, über das ich berichten kann. Weil es mich genauso als Subjekt infrage stellt, weil es mich so viel mehr verändert, als ich es im Gegenzug tue. Die Widersprüchlichkeiten, die sich auftun, sind da, weil meine Perspektive sie als Widersprüchlichkeiten wahrnimmt.
Indien und ich, wir sind wohl beide „verrückt“, für uns gegenseitig verschoben. Und während ich für Indien natürlich keine Aussagen treffen kann, komme ich nicht umhin, permanent zu versuchen, diese Verschobenheit, dieses Doppelbild, irgendwie aufzuheben. Aber inzwischen begreife ich ein wenig, dass das nicht geht. Dass ein Doppelbild dem betroffenen Ausschnitt zwar die Schärfe nimmt, aber auch die Eindeutigkeit, die Dominanz eines einzigen Blickwinkels.
„Mad Hatter, why is a raven like a writing-desk?“ „Have you guessed the riddle yet?“, the Hatter said, turning to Alice again. „No, I give it up,“ Alice replied: „What’s the answer?“
„I haven’t the slightest idea,“ said the Hatter.
Und ich auch nicht.
Tabea, du bist nicht “verrückt”. Viele Gedanken sind gut. Ich sehe den roten Faden in dem Text nicht ganz, aber er ist super geschrieben und hat mich gerade in meiner Post-Wahl-Depression enorm aufgeheitert. Danke dafür!
Liebe Tabea,
dieser Text hat mich sehr berührt.
Du kannst Deine Gedanken und Gefühle ganz großartig zu Papier bringen.
Es versinkt noch ein wenig in Deinem Blog:
Jessica