Die “Hong Kong Oath Saga” – Teil 1

Eine gespaltene Gesellschaft, Proteste vor und verhärtete Fronten im Parlament, Beleidigungen auf niedrigster Ebene und eine zentrale Frage: Ist das hier überhaupt noch Demokratie?

Wir befinden uns ausnahmsweise nicht im US-Wahlkampf, sondern in Hong Kongs eigenem und ebenso grundlegenden Politdrama: der „Hong Kong Oath Saga“, wie es die South China Morning Post* kürzlich tituliert hat.

Was ist passiert?

Hong Kong hat kurz nach unserer Ankunft, am 04.09.2016, eine neue Legislative – den Legislative Council, kurz: LegCo – gewählt. Die Wahlen waren mit Spannung erwartet worden: Sie waren die erste Stimmabgabe seitdem das Umbrella Movement im Herbst 2014 für 79 Tage Teile der Stadt lahmgelegt hatte. Der eine oder andere von euch erinnert sich vielleicht noch an die Bilder, die auch im deutschen Fernsehen lange über die Bildschirme geflimmert sind. An dieser Stelle empfehle ich eine kurze Google-Pause zur Erinnerung. Vor allem an die gelben Regenschirme:

https://www.google.com.hk/search?q=umbrella+movement&newwindow=1&client=firefox-b-ab&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwj6t733toXQAhXJnJQKHR7hBQcQ_AUICCgB&biw=1067&bih=576&dpr=1.2 (1.11.2016)

Obwohl die Bewegung nicht zentral organisiert war, war ein allgemeines Ziel universales Wahlrecht, unter anderem für die kommende Wahl des vom LegCo abgekoppelten Regierungschefs (Chief Executive) 2017. Dessen Wahl durch ein Komitee wird über die Filterung von Kandidaten maßgeblich von Peking gesteuert. Allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierung und die Forderung nach einem größerem Selbstbestimmungsrecht für Hong Kong waren ebenso verbreitet.

Wie es häufig der Fall mit derartigen Protesten ist, werden diese Forderungen jetzt ins Parlament getragen. Aus den pro-demokratischen Bürger- und Studentenprotesten sind in den letzten zwei Jahren neue Gruppen und Parteien hervorgegangen, deren Positionen allgemein als lokalistisch, localist, zusammengefasst werden. Die neuen Gruppierungen werden vielfach von jungen Menschen in den 20ern und 30ern getragen und einige ihrer Vertreter haben bei dieser Wahl Sitze gewonnen. Darunter sind die jüngsten Abgeordneten in der Geschichte der Institution, wobei der jüngste, Nathan Law Kwun-chung**, bei der Wahl erst 23 war. Dazu kommen bereits aktive Gruppen oder Individuen, deren Positionen durch die Proteste größere Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten haben. Lokale und internationale Medien sprachen von einem Generationenwechsel in Hong Kongs politischem System, zukünftige Entwicklungen seien kaum abzusehen.

Wie Recht sie mit dieser Prognose hatten, hat sich vor 3 Wochen gezeigt. Am 12. Oktober fand die Vereidigung der neuen LegCo-Mitglieder statt. Zwei Localists sind noch immer nicht vereidigt. Und es ist im Moment fraglich, ob es noch dazu kommen wird.

Im Mittelpunkt dieses Dramas steht eine Beleidigung, die Henni in einem ihrer letzten Beiträge schon angedeutet hat:

Chee-na.

Es handelt sich dabei um eine Form des japanischen Begriffs Shina. Ursprünglich die normale Bezeichnung für China, entwickelte der Begriff sich ab den sino-japanischen Kriegen seit den 1890ern und der brutalen japanischen Besatzung Chinas und Hong Kongs im 2. Weltkrieg zu einer Beleidigung. Mir wurde das Wort mit motherfucker, dog, without self-esteem umschrieben. Ich denke die Grundaussage wird auch ohne eine direktere Übersetzung klar.

Das Wort war Teil der Eide zweier neuer Localist-Abgeordneter – Sixtus „Baggio“ Leung Chung-hang und Yau Wai-Ching, beide Vertreter der 2015 gegründeten Partei Youngspiration. Ihre Eide wurden abgelehnt, eine Wiederholung war ursprünglich für die Folgewoche geplant, ist bislang allerdings noch immer nicht erfolgt.

Was seit dem 12. Oktober passiert ist, hat mir vieles über Hong Kong eröffnet und meinen Blick geschärft, sowohl für gesellschaftliche Fragen, als auch für das Verhältnis zu China. Bevor ich zu den eigentlichen Geschehnissen komme, sind allerdings einige Hintergrundinfos nötig. Und  damit geht es los auf eine Tour de Force durch Hong Kongs politisches System!

Sonderverwaltungszone Hong Kong – das Volk als Souverän?

Den Chinesen nach dem 1. Opiumkrieg (1839-42) im Vertrag von Nanking abgepresst, war Hong Kong bis 1997 britische Kronkolonie. Seitdem gilt für 50 Jahre das Prinzip „One Country, Two Systems”. Das Territorium ist dementsprechend eine Sonderverwaltungszone (HKSAR, Hong Kong Special Administrative Region), die nominell weitgehend autonom ist und vor allem ihr kapitalistisches Wirtschaftssystem beibehalten hat. Der Sonderstatus endet 2047. Bis dahin besitzt die HKSAR eine eigene „Mini-Verfassung”, das Basic Law.

Hong Kong war für Großbritannien von Anfang an ein Tor zum Handel mit Asien und an diesem Fokus auf wirtschaftliche Belange hat sich eigentlich auch bis heute wenig geändert. Das schimmert mal subtil durch und trifft einen dann wieder wie mit dem Holzhammer. Zum Beispiel beim Blick auf die Zusammensetzung des LegCo. 40 der 70 Sitze werden von der Bevölkerung nach geografischen Wahlkreisen oder direkt gewählt. So weit, so vertraut. Die restlichen 30 Sitze werden entsprechend so genannter fachlicher oder funktionsgebundener Wahlkreise (functional constituencies) besetzt. Hier wählen Vertreter professioneller und anderer Interessengruppen die Abgeordneten. Den 3,47 Millionen Wahlberechtigten aus der Bevölkerung stehen dabei weniger als 240.000 Stimmen gegenüber. In der Realität sieht es dann zudem so aus, dass zum Beispiel 4 Banken ein Stimmrecht sowohl für den Sitz der Finanz-, als auch der Versicherungsbranche (beide weniger als 150 Stimmberechtigte) innehaben. Hochgerechnet zählt die Stimme eines funktionsgebundenen Wahlkreises etwa 12,5 mal so viel wie die eines geografischen Wahlkreises, wobei sich der Wert einer einzelnen Stimme je nach „Branche“ unterscheiden kann. Man vergleiche beispielsweise Finanzen und Versicherung mit den mehr als 80.000 Stimmberechtigten aus dem Bildungsbereich***.

Besonders deutlich wird die Problematik dieses Systems, wie ich finde, wenn man sich den Bau- und Immobiliensektor anschaut. In Hong Kong leben aus einer Bevölkerung von etwa 7 Millionen mindestens 30% in Public Housing (Stand: 12/2015), dazu kommen andere subventionierte Wohnformen, während zehntausende auf einen Platz warten und dabei teilweise unter prekärsten Bedingungen leben (z.B. als “Cage People”). Zur gleichen Zeit steigen die Immobilienpreise rapide, Käuferschutz scheint kaum existent zu sein und die Regierung hatte sich jahrelang völlig aus dem Sektor zurückgezogen. 714 Wahlberechtigte haben hier 2016 einen (unangefochtenen) Vertreter gewählt. Die politischen Prioritäten sind damit wohl klar abgesteckt.

Pro-Peking vs. Pan-Demokraten

Im LegCo spalten sich die Abgeordneten verschiedener Parteien in 2 Lager: Pro-Peking und Pan-Demokraten. Erstere stehen in ihren Haltungen und Entscheidungen der Zentralregierung der VR China nahe, wobei ich gelesen habe, dass das häufig eher eine Frage von Pragmatismus als Ideologie ist. Dafür spricht auch, dass der größte Teil der Abgeordneten aus den funktionsgebundenen Wahlkreisen diesem Lager zuzurechnen ist. Das pan-demokratische Camp wird dagegen häufig als oppositionell charakterisiert, setzt sich für mehr Demokratie ein und fordert vor allem allgemeines Wahlrecht – bisher jedoch weitgehend innerhalb des Rahmens von “One Country, Two Systems”. Die Anfänge beider Lager liegen in Jugendbewegungen oder Aktivismus gegen die Kolonialregierung seit den 1960er und 70er Jahren.

Die Localists ergänzen nun das pan-demokratische Camp, werfen diesem jedoch vor, bisher nicht weit genug zu gehen. Was sie vom Establishment abhebt ist dann auch eine deutlich radikalere Haltung gegenüber der Volksrepublik China. Gemeinsam ist den verschiedenen Localist-Gruppen der Wunsch nach größerer Selbstbestimmung, wobei das Spektrum der Forderungen von größerer Autonomie bis zur Unabhängigkeit reicht.

Alle Camps zeichnen sich nach innen durch eine große Interessenvielfalt aus, angesichts des politischen Status Hong Kongs bleibt die Haltung zu China mit all ihren Implikationen aber einer der wichtigsten Einigungsfaktoren.

Im aktuellen LegCo haben 22 Pan-Demokraten in geografischen und funktionsgebundenen Wahlkreisen Sitze gewonnen (jeweils 11). Dazu kommen aus den geografischen Wahlkreisen 8 Localists, 5 davon 40 Jahre oder jünger. Die Anzahl pan-demokratischer Sitze (Localists eingeschlossen) stieg damit von 27 auf 30. Die restlichen 40 Sitze nehmen Pro-Peking-Vertreter ein. Insgesamt hat sich damit am Mengenverhältnis zwischen den beiden großen Lagern im Vergleich zu 2012 kaum etwas verändert. Das pan-demokratische Lager ist allerdings kräftig durchgewirbelt worden, wodurch einige Beobachter seine zukünftige Einigkeit und Schlagkraft in Frage stellen. Es behält nach Sitzen jedoch das Veto-Recht gegenüber Gesetzen und Reformen des politischen Systems. Umgekehrt kann es ohne Unterstützung des Pro-Peking-Lagers aber keine eigenen Reformen durchsetzen (das war vorher aber auch nicht der Fall). Seine Macht ist damit eher präventiver Natur.

Für alle Interessierten die noch nicht genug haben fasst dieses kurze Video das System nochmal zusammen und erklärt, wo die Regierung ins Spiel kommt:

Damit endet Teil 1 dieses Ausflugs in die politische Landschaft Hong Kongs. Ein wirtschaftlich dominiertes irgendwie demokratisches System für ein nominell autonomes Territorium in dem die chinesische Regierung kräftig mitmischt. Damit sind die Grundlagen für die folgenden Geschehnisse  – das in den ersten Zeilen angeteaserte Drama – hoffentlich einigermaßen klar. Ursprünglich wollte ich einfach nur die Ereignisse seit dem 12. Oktober aufschreiben. Allerdings ist mir schon im ersten Abschnitt aufgefallen, dass das ohne ständige Zwischenerklärungen kaum funktioniert. Dieser trockene Teil ist jetzt aus dem Weg, ich fühle mich zumindest selbst informierter und hoffe, dass ihr auch etwas mitnehmen konntet.

Der spannende Teil kommt dann hoffentlich Ende dieser Woche: Das Umbrella Movement richtete sich gegen den wachsenden Einfluss Pekings und Chinas – nicht nur auf das politische System. Die „Hong Kong Oath Saga” zeigt genau diesen Einfluss auf – ebenso wie die Schwierigkeiten, gegen ihn anzugehen. Gleichzeitig zeigen Beleidigungen wie Chee-na vonseiten gewählter politischer Vertreter, verwendet bei der Vereidigung in ein Parlament, in welche Richtung sich das politische und soziale Klima entwickeln. Und sie zeigen, dass nichts einfach nur schwarz-weiß ist.

 


* Hier geht das Problem schon los. Wie komme ich an Informationen in einem Land, in dem ich die Landessprache nicht beherrsche? Mein Zugriff auf Medien in Hong Kong ist also stark eingeschränkt. Die meisten meiner Informationen kommen aus der South China Morning Post, einer lokalen englischsprachigen Tageszeitung, die mir Einheimische empfohlen haben – allerdings eine Empfehlung mit Einschränkungen. Mehr dazu später.

** Der Name erscheint sehr lang, zeigt aber sehr gut, wie Hong Kong sich z.B. im Umgang mit Namensgebung zwischen Ost und West bewegt (um in Ermangelung einer besseren die abgegriffenste Formulierung zu benutzen). Law ist der Nachname, Nathan der englische Vornahme (entweder von den Eltern gegeben, in der Schule bekommen und/oder selbst ausgesucht). Kwun-chung wiederum ist der kantonesische Vorname. Je nach Kontext, oder im journalistischen Rahmen Medium, Publikum oder Autor, wird entweder die volle Form, oder nur eine der Varianten verwendet. Die vollen Implikationen der jeweiligen Verwendungsweisen habe ich allerdings noch nicht ganz durchschaut, arbeite aber daran.

*** Wer noch mehr Beispiele möchte: http://www.scmp.com/news/hong-kong/article/1421613/legco-election-2016-how-handful-voters-elect-30-hong-kong-lawmakers (31.10.2016)

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