Ich, die mit den zwei Identitäten

Identität. Genau dieses große Thema behandeln wir auch in unserem Kurs „Recursos de la memoria“, wo wir im Zusammenhang mit der Eroberung Lateinamerikas, den Unabhängigkeitsbewegungen und dem Militärputsch das Kolletivgedächtnis behandeln und selbstverständlich auf Assmann und Halbwachs eingehen. Unser Kurs ist im Moment in drei Gruppen aufgeteilt, sodass jede Gruppe über eines dieser Themen intensiv forschen und zunächst in Form von drei Präsentationen die Forschungsergebnisse vorstellen soll. Ich bin in der zweiten Gruppe, das heißt „Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika im 19. Jahrhundert“, aber unsere Dozentin Frau Pizzaro, die mich bereits aus Konstanz kennt, wollte dass ich auch Deutschland und Türkei vorstellen soll, damit die chilenischen Studenten auch diese Länder mit ihrem historischen kennenlernen und damit wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten können. Die Vereinigung der jeweiligen Länder, die Gründung der jeweiligen Nationen, Kriege, die den Nationalstaat geformt haben, wichtige Persönlichkeiten wie Bismarck und Atatürk und Volksaufstände haben mich die letzten Tage sehr beschäftigt. Ich muss zugeben, ich habe mich sehr unter Druck gesetzt dieser Ehrenaufgabe gerecht zu werden. Ich war damit beschäftigt die gesamte Geschichte verständlich zusammenzufassen, die jeweiligen Hymnen zu übersetzen, zu interpretieren, Bezüge zum Kollektivgedächtnis herzustellen und Filme anzuschauen, um mir bessere Bilder von den Darstellungen der historischen Ereignisse machen zu können. Ich war in den letzten Tagen psychisch so im 19.Jahrhundert verankert, dass ich gedacht habe, dass es gleich zu einem Balkanaufstand kommen kann oder Napoleon uns den Krieg erklärt.

Heute hatte ich die Aufgabe meine Ergebnisse und Zusammenhänge vorzustellen. Ich habe mich ein bisschen wie eine Botschafterin gefühlt. Vor allem, als es um die osmanische bzw. türkische Geschichte ging und ich im Anschluss die Hymne vorgestellt habe, haben mich alle fasziniert angeschaut. Es war eine tolle Erfahrung als Türkin mit Vergleichen zu Lateinamerika, die Formung der Nation, die Prägungen der Ereignisse zu präsentieren. Dann kam die Deutsche in mir heraus, die die Entwicklung des heiligen römischen Reiches näher bringen durfte. Keiner wusste, dass das heilige Reich früher in 382 souveräne Staaten aufgeteilt war oder, dass in der Hymne französische Wertvorstellungen enthalten sind. Ich finde das überhaupt nicht schlimm. Ich kenne auch nicht alle Hymnen in Lateinamerika oder kann im Stegreif alle historischen Wendepunkte kritisch analysieren. Aber ich war einfach nur stolz diese in Chile präsentieren und illustrieren zu können.  Mir wurde nochmals bewusst, dass ich mit beiden Werten, Nationen, Sprachen und mit beiden Kulturen aufgewachsen bin. Ich musste gestern an die Worte von unserem wissenschaftlichen Koordinator Hannes Brandt denken, der gesagt hat, dass wir im Ausland, Deutschland präsentieren werden. Ja, genau das habe ich heute Wort wörtlich gemacht. Nicht nur Deutschland, sondern auch meine zweite Identität, nämlich die türkische und das hat sich trotz der Aufregung und trotz vieler ehm eehh eehh während dem Referat auf Spanisch gut angefühlt.

Nun sitze ich nachts/morgens um 3.51 auf meiner Couch mit meinem Wein und philosophiere darüber, was es eigentlich für Vorteile hat, mit zwei Identitäten aufzuwachsen und was mich dadurch bisher alles geprägt hat.

Zugegeben, ich habe mir eine lange Zeit gar keine Gedanken darüber gemacht, bis Frau Pizarro mich darauf aufmerksam gemacht hat, was für ein Glück ich damit habe. Meine Kommilitonen fragen mich oft, wie meine Eltern ausgewandert sind, wie sich die Kulturen sich unterscheiden und wie es in Europa ist, als eine Person mit zwei Sprachen und zwei Identitäten aufzuwachsen. Ich habe keine Geschichte, ich habe Geschichten, die ich erzählen kann…

 

 

P.S. Für die Deutschtürkin geht es nächste Woche mit den feministischen Bewegungen und  den Heldenfiguren weiter. In der letzten Referatssitzung werden wir die Bedeutung der Nationalfeiertagen im Zusammenhang mit dem Kollektivgedächtnis behandeln und dannach die aktuellen Problemen in den lateinamerikanischen Länder sowie in der Türkei und Deutschland zur Diskussion stellen. Auch wenn dies alles mit viel Arbeit verbunden ist, freue ich mich auf die weiteren Sitzungen.

3 thoughts on “Ich, die mit den zwei Identitäten

  1. Keine Geschichte sondern Geschichten… 😀 Da kommen Erinnerungen hoch. Aber klingt wirklich nach einem großen Mehrwert der ganzen Arbeit und ich finde es toll, wie sehr du deine Erfahrungen wertschätzt. Was viele als selbstverständlich ansehen, reflektierst du und das ist großartig, ich bewundere dein Identitätsgemisch sehr!!! Wer weiß, vielleicht findet sich dort ja auch bald noch eine chilenische Komponente wieder 🙂 Besos von der anderen Seite!

  2. “Ich war in den letzten Tagen psychisch so im 19.Jahrhundert verankert, dass ich gedacht habe, dass es gleich zu einem Balkanaufstand kommen kann oder Napoleon uns den Krieg erklärt.” Esra, ich liebe deinen Text. Ich kenne das so gut, wenn man sich in Themen verliert oder wenn man einem persönlich wichtigen oder allgemein emotionalen Thema unbedingt gerecht werden möchte und sich dann immer weiter verzettelt.
    Zu der Repräsentation: Ich habe hier auch immer wieder das Gefühl, dass ich gerade in meinem Rassismus-Kurs ein Statement aus meiner europäischen oder gerade meiner deutschen Perspektive geben muss. Darüber bald mehr.
    Erinnerst du dich noch an unser Tutorium zu Homi Bhabha und seine Theorie zum “Dritten Raum”? Du bis eben unsere Kulturhybride (mit einem Augenzwinkern) 🙂

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