Californian Rain

Heute ist es passiert – es regnete zum ersten Mal, seitdem wir nach Berkeley gezogen sind. Und beim Beenden dieses Satzes merke ich, wie kalifornisch ich schon geworden bin. Es regnet natürlich nicht richtig. Zu vergleichen ist es etwa mit dem leicht herumsprühenden Hoch-zieh-Verschluss einer Wasserflache (wofür ich den geeigneten Begriff leider nicht kenne). Ich rannte also panisch mit den anderen Studierenden durch diesen monsunartig wirkenden Nieselregen, umklammerte fest meine Tasche und zog mir die Kapuze tief ins Gesicht. Verzweifelt fragte ich meine Kommilitonen, ob der Sommer nun vorbei wäre?!! Ich kann euch alle beruhigen: Auch im Herbst sollen die „Regen“tage hier selten sein. Es bleibt also weiterhin kalifornisch sonnig (hoffentlich).

Tatsächlich dunkle Regenwolken ziehen sich aber durch meine Gedanken, seitdem ich hier studiere. Wenn ich nicht gerade sonnig lächelnd vom Quidditchfeld nach Hause hüpfe oder mich über die amerikanische Freundlichkeit erheitere, sitze ich in meinen drei Uni-Kursen. Wie einige von euch nun schon in den letzten Semestern bemerkt haben, neige ich zu einer eher düsteren Kurswahl. So auch hier: Ich beschäftige mich in Berkeley hauptsächlich mit Krieg, Sklaverei, Flucht, Vertreibung und Genoziden. Es handelt sich also um das volle Kontrastprogramm zum fröhlich sonnigen Alltag. Mein Schwerpunkt liegt wieder einmal auf der deutschen Kriegs- und Flüchtlingsliteratur des Zweiten Weltkriegs. Es ist spannend diese Epoche aus der Ferne zu studieren und sein eigenes Denkverhalten zu reflektieren.

Drei Mal pro Woche habe ich mit Werken wie „Mein Kampf“, Goebbels Parteitagsreden, Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“, etc. zu tun und ertappe mich doch immer wieder, wie ich beschämt in meinem Sitz versinke, während sich die amerikanischen Kommilitonen über Hitlers gerolltes R lustig machen, beim Horst-Wessel-Lied unbewusst mitwippen, oder darüber sprechen, wie intelligent Goebbels gewesen sein muss. Durch die Distanz, die man aus der amerikanischen Perspektive hat, gehen die Studierenden sehr viel unbefangener mit dieser Thematik um und es kommt mir häufig so falsch vor. Aber wie verhält man sich „richtig“? Ich glaube der gesamte Kurs verhält sich unsicher, ob Amerikanisch oder Deutsch. Die einen wohl aus Unwissenheit, die andere(n) aus einer seltsamen Art des Schuldgefühls, obwohl man schließlich weiß, dass man mit dieser Katastrophe reichlich wenig zu tun hatte. Die Aufarbeitung von Geschichte verläuft von Land zu Land sehr unterschiedlich, wie man an Lauras und Uwes Einträgen schon schön gesehen hat. Es ist schwierig, seine Position in den Diskussionen zu finden, weil man stets Angst davor hat, sich nicht geeignet auszudrücken. Während ich manchmal Gänsehaut bekomme, wenn ich höre, wie unreflektiert die amerikanischen Studierenden deutsche Nazi-Begriffe verwenden, so sind bestimmt einige Bemerkungen von mir in dem Kurs zur amerikanischen Geschichte ähnlich unangebracht. Aber genau diese Erfahrungen machen einen universitären Auslandsaufenthalt so wertvoll.

Nach den nervenaufreibenden Diskussionen über die Geschichte der amerikanischen Sklaverei, des deutschen Antisemitismus und Rassenwahns sowie der Lektüre von Exilgeschichten, setze ich mich meistens in unsere wunderschöne Bibliothek, scrolle durch die online-Ausgaben einiger Zeitungen und frage mich: Hat eigentlich niemand etwas aus der Geschichte gelernt?! Oder in den Worten einer Demonstrantin gegen das Abtreibungsverbot in Polen zu sprechen: „I can’t believe I still have to protest this fucking shit“

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Ich war recht froh, als ich im August das Land der brennenden Flüchtlingsheime verlassen konnte, um einmal Abstand zu den ganzen Ereignissen zu gewinnen. Und dann landet man in den USA und sieht sich konfrontiert mit einem Präsidentschaftswahlkampf, bei dem man nur kopfschüttelnd auf den Boden blicken kann. Und wenn man doch wieder neuen Mut zum Lesen der Nachrichten fasst und die New York Times aufruft, erfährt man, dass wieder ein unbewaffneter Afroamerikaner von der Polizei grundlos erschossen wurde. Mir wird langsam bewusst, dass man noch so weit von den Problemen seines Landes fliehen kann, es ergeben sich doch immer neue.

Mit Henni hatte ich vor unserer Abreise noch ein Worst-Case-Szenario-Gespräch: Man nehme Marine Le Pen, Frauke Petry, Donald Trump, Putin, Erdogan, Viktor Orban, Assad, Norbert Höfer, … stecke sie zusammen und schaue, was passiert. Es war uns aber unmöglich daran zu glauben, dass es zu einer derartigen Situation kommen könnte. Wenn man dann in einem Land lebt, indem sich ein großer Teil der Bevölkerung für einen frauenverachtenden, ausländerfeindlichen und sich über alle stellenden Präsidentschaftskandidaten begeistert, der einen alles überragenden goldenen Turm in Las Vegas besitzt, auf dem groß sein Name steht und zu dessen Füßen sich die Obdachlosen stapeln, dann scheint dieses Szenario auf einmal gar nicht mehr so absurd.

Doch lassen sich meine düsteren Gedanken und Vorstellungen schnell vertreiben, indem ich mir die Gesichter der Studierenden anschaue, die gerade vor meinem Fenster durch den Hoch-zieh-Flaschenverschluss-Nieselregen laufen. Da stellt man sich doch die Frage, wie es ihnen wohl im regnerischen Konstanz ergehen würde… Und sie tragen hier schon Gummistiefel…

 

Die nächsten Blogeinträge werden wieder fröhlicher, sobald die Top 10 der Hawaii-Fotos ausgewählt worden sind 🙂 Und für alle Quidditch-Fans: Ich werde euch bald mit Neuigkeiten und Bildern versorgen.

One thought on “Californian Rain

  1. Schön von dir zu hören Ella. Ich finde auch deine Kurse sehr interessant. Allein an euren Kursen merkt man schon, dass die ‘Rassenproblematik’ leider immernoch ein großes Thema dort ist. Ich finde es toll, dass du dort die amerikanische Perspektive auf die deutsche Geschichte kennenlernst und umgekehrt deine Perspektive auf die amerikanische Geschichte und Politik ändern oder eben bestätigen kannst. Ich finde genau das immer so aufregend, wenn man im Ausland studiert und viele Themen, die man bereits kennt, mit anderen Sichtweisen ergänzen und vervollständigen kann. Kommentare zu den jeweiligen Präsidenten erspare ich an dieser Stelle 🙂 und wünsche ich dir noch spannende Sitzungen in den Seminaren.
    P.S. Ich warte auf die Hawaii Bilder, die die ich bisher gesehen habe waren schon wundervoll:)

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