Über Kuriositäten des Lebens, Derrida und Nacktheit

Ich bin für diesen Blog sehr dankbar. Einerseits weil es unheimlich schön ist, immer wieder über die Weltkarte auf dieser Seite zu stolpern und ein wenig mehr zu begreifen, dass wir tatsächlich alle irgendwo auf diesem Globus sitzen. Dass es trotz der unterschiedlichen „Welten“ trotzdem eigentlich noch immer die gleiche Welt ist. Das bringt mich immer wieder zum Staunen und – so geht es, glaube ich, vielen von uns – macht mich auch sprachlos. Im wahrsten Sinne des Wortes. Oder eher Nicht-Wortes. Wie sollen denn auch diese Ansammlungen von Buchstaben, diese minimalen Zeichen, so einem Gefühl gerecht werden? Geht es überhaupt, das, was sich da in einem ausbreitet, in ein System, eine Ordnung bringen zu wollen und dann zu sagen: So ist es hier, wo ich gerade bin, oder so ist es hier eben nicht.

Ja, okay, ich gebe es zu, ich habe in letzter Zeit ein wenig Jacques Derrida gelesen. Wenn nicht sogar ein wenig zu viel. Aber dieser Mann schafft es auch immer wieder, in meinem Alltag aufzutauchen; ich fühle mich dabei gerade so, wie diese frisch schwangeren Frauen, die anscheinend überall andere Schwangere sehen… Wo ich gehe und stehe, sehe ich Derrida und seine Spuren.

Vor allem denke ich an seinen Vortrag „The Animal That Therefore I am (More to Follow)“, eine herrliche Ansammlung von Zeichen, die er damit eröffnet, dass er beschreibt, wie er nackt in seinem Badezimmer steht, seine Katze hereinkommt und ihn dabei beobachtet. Daraus entwickelt er verschiedene Überlegungen, vor allem, weil er bemerkt, dass er unter ihrem Blick ein Schamgefühl bekommt und sich fragt: Warum? Ist die Katze überhaupt ein legitimer „Beobachter“, im Sinne, dass sie jemals darauf antworten, reagieren könnte in einer Sprache, einem Ausdruck, der nicht vom Menschen in sie hineininterpretiert wird? Oder ist man als nackter Mensch nicht vielmehr Tier, das kein Schamgefühl – dieses durch und durch menschliche Gefühl –  kennt, also warum sich vor einer Katze schämen? Und ist es nicht die Schuld unserer Sprache, dass die Katze nicht antworten kann, weil wir ein menschliches Sprachsystem entwickelt haben, das in seiner Form der Abstraktion die anderen Tiere ausgrenzt und die Katze damit einer möglichen Antwort beraubt, zu der sie aber eigentlich fähig wäre?

An diesem Punkt bin ich mit meinen Gedanken etwas hängen geblieben, vor allem, weil ich gleichzeitig für einen weiteren Uni-Kurs seit langer Zeit einmal wieder „Sophie’s Welt“ lese. Und da lässt sich die Frage großartig übertragen: Wenn ich davon ausgehe, dass eine Katze nur insofern antworten kann, dass ich eine mögliche Antwort (auf die als Reaktion dann wieder mein Schamgefühl legitim wäre) in sie hineininterpretiere, sie also nur gemäß meiner menschlichen Sprachmuster gelten lasse und damit den Dialog eigentlich in einen konstruierten Dialog, einen als Dialog verkleideten Monolog, umwandle – wenn dem so ist – kann dann eine Figur aus einem Buch in wirklichen Kontakt mit ihrem Autor treten? Oder wäre dann nicht jede Reaktion, jede Aussage bereits von ihm in sie hineingeschrieben worden, ganz einfach, weil sie ein Produkt seiner Phantasie ist und sich nur innerhalb der Gegebenheiten bewegen kann, die der Autor bestimmt? Aber wenn es Sophie und Alberto in Sophie’s Welt tatsächlich aus ihrem Buch schaffen und tatsächlich in der Lage sind, etwas in der Welt ihres Autors zu bewegen, zu verändern, ohne dass er dazu den Impuls gegeben hat – ist dann nicht auch eine Katze in der Lage, Antwort zu geben, die für uns wahrnehmbar ist, obwohl sie nicht durch unsere Kommunikationsmuster ausgedrückt werden kann?! Ist es nicht doch vielleicht möglich, Dinge wahrzunehmen, die über unsere Wahrnehmungskategorien nicht definiert, greifbar, gemacht werden können und doch irgendwie Einfluss nehmen?

Natürlich drängt sich mir seitdem auch die permanente Frage auf, ob wir nicht alle Romanfiguren sind, ob nicht ein verrückter Autor an seinem Schreibtisch sitzt, über eine Studentin schreibt, die nach Indien fährt und dabei anfängt, darüber nachzudenken, ob sie nicht vielleicht eine Romanfigur ist. In diesem Fall wären alle Menschen, die ich nicht persönlich kenne, nichts weiter als leere Referenzen, ein wenig „Hintergrundgeplätscher“, um den Schein einer Realität aufrechtzuerhalten, die dieser verrückte Autor mir selbst als wahrzunehmende Realität eingeschrieben hat. Und die er mich gerade hinterfragen lässt. Was für ein Schuft! Vermutlich ist er, wenn er nicht gerade an meinem Roman schreibt, begeisterter Zocker von Real Life Games unter dem Gamernamen „RealityDestroyTroll 666“

Um aber niemanden weiter zu verschrecken, kehre ich nun einfach einmal zu der Annahme zurück, dass es so etwas wie Realität gibt und dass ich in dieser Realität gerade in Indien an der JNU ein Auslandssemester mache und dabei unheimlich viel gedanklichen Input bekomme!

Ich genieße das einerseits sehr, andererseits – ihr habt es vielleicht bemerkt – ist es dann manchmal schwer, in meinen kuriosen Alltag zurückzukehren. Dann steht ein Tuktuk-Fahrer vor mir, will sich mit mir über den Preis zur nächsten Mall streiten und plötzlich kommt mir der Gedanke an Derridas Satz, dass er seinen Vortrag, wenn es möglich ist, in „nackter Sprache“ halten möchte. Und ich denke mir: Wenn die Nacktheit der Sprache darin liegt, dass es Worte sind, die 1:1 in ihrer Wörtlichkeit ausdrücken, was dahinter steckt, was real da ist… Spricht der Auto-Wala dann gerade „nackt“ mit mir, wenn er ruft, dass ich verrückt bin, nur so wenig bezahlen zu wollen? Seine Gestik und Mimik lassen es jedenfalls vermuten. Vielleicht hätte ich ihn anzeigen sollen. Wegen sprachlichen Exhibitionismus’.

Oder ich gehe in ein Kino – natürlich wieder in einer dieser verrückten, sauberen Malls, die so künstlich wirken, dass ich jedes Mal das Gefühl habe, in einer anderen Realität gelandet zu sein – und als Big B, alias Amitabh Bachchan, mit 74 immer noch der größte Herzensbrecher Bollywoods, auf der Leinwand erscheint, rastet das gesamte Publikum aus. Es wird gepfiffen und gejubelt und geklatscht und das ganze wiederholt sich, sobald er mit seiner tiefen tragenden Stimme und eindrucksvoll bohrendem Blick einen längeren Satz in seinen Bart schnurrt, jedes Mal. Jedes einzelne Mal. Und ich sitze da und denke mir: Wer ist jetzt Katze und wer ist Mensch? Die Figur auf der Leinwand wird genau das Gleiche sagen, genau den gleichen Gesichtsausdruck haben, exakt das Gleiche tun, vollkommen unabhängig davon, ob ich als Zuschauer schlafe oder juble. Und jubeln die Menschen im Kino überhaupt für Amitabh Bachchan, den Menschen, oder für Amitabh Bachchan, das Konstrukt, das Idol, zu dem sie ihn selbst stilisiert haben, um ihm applaudieren zu können?!

Nach dem Film, ich gebe es zu, war ich an einem Punkt, an dem mich Derrida ganz schön fertig gemacht hat und ich mich erst einmal auf meine Dschungel-Pritsche gesetzt und eine Runde geweint habe. Meine beiden Mitbewohnerinnen waren zunächst ein wenig beunruhigt. (What is Tabia?You’re homesick? Is it a man? Someone from the campus?)

Nach meinem Erklärungsversuch unter Tränen waren sie dann sehr beunruhigt.

Und dann meinte Mayane nur knapp: Tabia, I think you think too much! Stop that.

Und anscheinend findet Indien das auch. Denn was lief mir heute, mitten auf einer dicht befahrenen Delhi-Stadtautobahn entgegen, an deren Rand ich mich zum nächsten Icecream-Wala vortastete? Richtig. Ein nackter Mann. Einfach ein komplett nackter Inder. Der grinste.

Danke dafür, RealityDestroyTroll 666!

One thought on “Über Kuriositäten des Lebens, Derrida und Nacktheit

  1. Amitabh Bachchan – die neue Cindy Crawford? Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Toller Artikel, Tabea! Wenn du das Produkt eines Autors bist, dann hat er auf jeden Fall gute Arbeit geleistet (Ist das jetzt ein Eigenlob? Schließlich bin ich ja ein Teil von Tabeas Welt…)

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