Sichere Orte

Ich habe in den letzten Tagen viel über Tinas Beitrag zum Alleinsein nachgedacht und warum ich bisher noch nichts geschrieben habe. Allein für solche Dinge liebe ich den Blog, eben weil ich über meine Erfahrungen hier nicht nur direkt mit Henni und Franzi sprechen kann. Eure Berichte rücken das eine oder andere nochmal in eine neue Perspektive.

Hier passiert eine Menge Berichtenswertes und ich habe schon 3 oder 4 mal versucht, irgendwas „zu Papier“ zu bringen. Nichts davon ist fertig geworden, weil ich nicht richtig in Worte fassen konnte, was ich eigentlich sagen möchte. Die Normalität hat sich unerwartet schnell eingestellt, alles fließt ein wenig ineinander und mittendrin anzufangen fühlt sich nicht richtig an. Deshalb versuche ich mit diesem Beitrag, irgendeinen Anfangspunkt zu finden und schaue einfach mal, wohin er führt.

Menschen brauchen sichere Orte, sei es als Anfangs- und Orientierungspunkt für neue Unternehmungen, als Rückzugsort zur Entspannung und zum Nachdenken und um neuen Mut zu fassen. Die Uni hier in Hong Kong ist für mich ein solcher sicherer Ort.

Sie ist es allein schon physisch: Lingnan University ist eine Campus Uni und macht in ihrem (pseudo?-)traditionellen chinesischen Stil den Eindruck einer Festung. Mauern und Zäune schließen den Raum deutlich nach außen ab. An den Wegen nach draußen (genau wie an den Wohnheimeingängen) gibt es Security-Personal, das nachts auch patroulliert und in den Zimmern finden sich Panikknöpfe. Beim Betreten der Wohnheime und des Campus über die Seitenportale scannt man seinen Studentenausweis. Der Schritt nach außen (ebenso wie der nach innen) erhält so immer etwas symbolisches.

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Nach innen erscheint der Campus als eine Art Oase, abgetrennt von der Stadt und dem Lärm außen (der Lärm hier drin ist anders). Die Gebäude erscheinen, obwohl teilweise auch 8 Stockwerke hoch, beinahe klein im Vergleich zu den Wohntürmen und Bergen, die die Uni von allen Seiten umgeben. Es ist ruhig, es gibt offene Plätze, Grünflächen, Bäume, einen Teich mit Koi-Karpfen (kein Klischee) und überall Sitzgelegenheiten.

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Der Campus unterscheidet sich damit deutlich von der Stadt, die ihn umgibt. Tuen Mun ist eine Satellitenstadt weit im Westen der New Territories und wurde erst in den 1970ern hochgezogen. Sie ist definitiv kein schöner Ort und vieles von dem was wir sehen irritiert und wirft Fragen auf. Dazu aber ein anderes Mal mehr.

Ein sicherer – oder bequemer – Ort ist die Uni auch auf einem organisatorischen Level. Gebäude, Büros etc. lassen sich leicht finden und die Mitarbeiter des OGE (Office of Global Education) sind unfassbar gut organisiert und darum bemüht, alles möglich zu machen. Zu unseren Orientierungsveranstaltungen wurden wir teilweise abgeholt, auf meinem Schreibtisch liegen zig Booklets und Umschläge mit Infos. Nicht zu vergessen sind auch die diversen Mailinglisten. Mein Postfach existiert seit etwa 2 Monaten und ich habe (passiv) bereits mehr als 260 Emails bekommen. Dabei ist zu bemerken, dass das Semester erst seit 9 Tagen läuft. Draußen und in den Wohnheimen begegnet man auf Schritt und Tritt Menschen in blau-gelben T-Shirts, die für die Pflege der Anlage und die Sauberkeit in den Wohnheimen sorgen. Ich könnte schwören, dass so gut wie jedes Mal, wenn ich mein Wohnheim betrete jemand den Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss putzt. Kochen habe ich dort dagegen noch niemanden gesehen. Da wir auf dem Campus wohnen ist kein Weg länger als 10 Minuten, sei es zu Veranstaltungen, zum Sport oder zum Einkaufen in das kleine Einkaufszentrum direkt nebenan. Der sichere Ort Uni wird damit schnell auch zu einem eigenen kleinen Kosmos, den man im normalen Alltag eigentlich nicht verlassen muss.

Darüber hinaus hatte ich bisher kaum Gelegenheit, mich in den Zug zu setzen und herauszufinden, wo es mich eigentlich hinverschlagen hat. Während der ersten Woche in Hong Kong habe ich wegen Jetlag etc. das Zentrum bloß einmal aus einem Reisebus heraus gesehen. Dann folgte eine Woche permanenter Bewegung und Aufregung in Japan, gefolgt von der Add/Drop-Period, der Kurswahl. Alle Kurse finden 2x pro Woche statt (es gibt jeweils eine Lecture und ein Tutorial), das frisst Zeit.

Dazu kommt der eigentliche Weg ins „Zentrum“. Nach Kowloon oder Hong Kong Island brauchen wir insgesamt etwa 50-60 Minuten. Der öffentliche Verkehr in Hong Kong ist extrem effizient und vor allem günstig. Der MTR (Mass Transit Railway) bringt uns bequem und ohne Umsteigen direkt in die Stadt und die Aussicht auf die Berge während der Fahrt ist teilweise sehr schön. Aber obwohl ich im Voraus von der Entfernung wusste und die Fahrt selbst schnell vorbeigeht, ist das Hong Kong, auf das ich mich bei meinen Planungen eingestellt und gefreut habe ganz schön weit weg. Vor allem im Kopf. Die Karten in meinem Kopf mit der Realität abzugleichen ist deshalb schwerer als gedacht. Gleichzeitig finden Tuen Mun und unsere Nachbarschaft erst langsam ihren Weg auf diese Karten. Die Idee, dass es auch hier mehr zu entdecken gibt hat ein paar Tage auf sich warten lassen, weil neben der berühmten Skyline von Central kaum Platz war.

Diese räumliche Orientierungslosigkeit mischt sich mit dieser gewissen Orientierungslosigkeit, die mit jedem Neuanfang einhergeht: Neue Menschen, neue Strukturen, Regeln, eine neue Sprache und essenzielle Fragen: Welches Waschpulver bleicht meine Wäsche nicht? Mit welcher der 10 Sorten Scheibletten-Käse kann ich meinen Käsehunger zumindest theoretisch stillen? Was ist die Zauberzutat im Joghurt, die ihn bis ins kommende Frühjahr haltbar macht? Und wie viel bin ich bereit für den einzigen Joghurt zahlen, dessen Verfallsdatum noch im September liegt? Dazu kommt, dass an der Uni zwar vieles gut läuft, die ganze Studienkultur aber insgesamt doch ein bißchen anders funktioniert. Da ist es gut, dass ich aktuell noch den Luxus eines Einzelzimmers genieße. Meine Mitbewohnerin wohnt in der Nähe und pendelt lieber von ihren Eltern aus, als 9m² mit jemand Wildfremdem zu teilen. Etwas vage meinte sie, sie käme dann eventuell zu den Mid-Terms im Oktober. Ich bin dankbar für diesen Rückzugsort. Gleichzeitig besteht dadurch umso mehr die Gefahr, dass mein sicherer Ort zu einer Komfortzone wird, die zu verlassen  eine gewisse Überwindung kostet. Das gilt besonders jetzt, wo sich trotz aller offenen Fragen Normalität einstellt. Und meine Komfortzone zu verlassen ist schließlich einer meiner Gründe für das Auslandssemester.

Ich habe mich also heute in den Zug gesetzt und bin einfach losgefahren. Das Ziel: Victoria Harbour und die Star Ferry nach Central. Ich bin auf dem Weg.

 

7 thoughts on “Sichere Orte

  1. Liebe Mareike, in Sachen Käse und Joghurt fühlen wir mit dir. Hier ist auch alles bis nächstes Jahr haltbar und der “strong swiss cheese” schmeckt eher wie einer sehr sehr sehr (!) milder Fol Epi.
    Ich bin gespannt auf deine Entdeckungen und Ausflüge!

  2. Hab mir “Cheddar-Toast” (definitiv beides in “”) gemacht. In der Mikrowelle. Es war tragisch. Haben aber einen vielversprechenden Supermarkt gefunden. Ausgewähltes Sortiment, es gibt Ritter Sport und Kölsch. Die Hoffnung lebt.
    Hoffe, es kommt noch was zu eurem Mädels-Ausflug!

  3. Wenn du sie lässt, kann sich deine Komfortzone erweitern. Aller Anfang ist schwer und so schwer es auch oftmals ist, so sehr lohnt es sich, den eigenen Schatten-Schweinehund zu überwinden. In dir steckt so viel mehr Kraft, als du dir manchmal zutraust. Du kannst es auch mit dem Frühjahrsjoghurt aufnehmen! Und auch auf die Nase fallen ist normal und wichtig. Ich herze dich aus 11 Stunden Zeitentfernung <3

  4. Das stimmt, ich habe dagegen an einem unsicheren Ort gewohnt, als ich in die fremde Stadt gekommen bin.

    Was für ein Joghurt? Es erstaunt mich auch sehr, weil alle Milch-Produkte in Taiwan in ein paar Tagen verzehr werden sollen. Und Taiwan ist ja von Hongkong nicht so entfernt. Interessant ist, dass für mich fast alle Lebensmittel in Deutschland viel länger haltbar sind als in Taiwan, ohne sie trotzdem in einem Kühlschrank zu legen, z.B. Brot. Der Grund wäre das Wetter oder auch “Zauberzutaten”? Nach meiner Beobachtung hätten die meisten Deutschen oder in Deutschland lebende mehr Vertrauen an den Staat, der diese “Zauberzutaten” schon überprüft. Stimmt das? Ansonsten hätte ich die Gewohnheit von Asiaten übernommen, einen solchen Eindruck zu haben, dass alles in Deutschland absolut in Ordnung und somit viel besser als in Asien ist.

    Ein größer Unterschied bezüglich der Aufbewahrung von Lebensmitteln besteht darin, dass es kein Mindesthaltbarkeitsdatum in Taiwan gibt, sonder nur das Verfallsdatum wird auf einer Verpackung und in den Kopf jeder Bürger geprägt. Aus diesem Phänomen habe ich ersehen, dass ein Spielraum für den Treffen eigener Entscheidung besteht.

    Zu der Form des Campus würde ich sagen, dass die meisten Universitäten in Asien einen verschlossenen Campus haben. Es wäre auch normal, dass Studentenwohnheime von der Uni selbst verwaltet werden. Daraus folgt eine Kontrolle des Eintritts von studentischen Bewohnern in die Wohnanlage, weil die Uni ihre StudentInnen “schützen” wollten. Früher gab es in Taiwan sogar strengere Kontrolle bei Frauenwohnheimen (ja, grundsätzlich wohnen Männer und Frauen in Studentenwohnheimen getrennt), die es verbot, Frauen nach z.B. 24:00 freiwillig eine Wohnanlage ein- oder auszutreten.

    1. Ich bin gerade fasziniert vom Fokus, der auf diesem Joghurt liegt 🙂 Wei-Cheng, du hast definitiv Recht. Ich habe dieses Gefühl, dass der Staat sich schon kümmert, dass alle Produkte in Ordnung sind. Und ich bin einfach davon ausgegangen, dass eine kürzere Haltbarkeit mit “organischer” oder “gesünder” sein gleichzusetzen ist, weniger Konservierungsstoffe und so weiter. Aber davon kann man nicht per se ausgehen – wir essen ohnehin so viel Mist. Darüber hinaus war wohl auch die eine oder andere Vorannahme über die Qualität chinesischer Produkte involviert. Und ich hatte das Mindesthaltbarkeitsdatum im Kopf, stimmt. Werde das mal nachprüfen. Alles in allem wieder eine interessante Beobachtung 🙂

      Hoffe, du fühlst dich inzwischen wohler und es gibt positive Nachrichten von deiner Wohnungssuche!?

  5. Süße, bei Joghurt und Käse musste ich schmunzeln und Gott danken, dass ich das alles hier habe. Jedoch fehlen mir hier auch so einige Sachen zum kochen, entweder sind sie extrem teuer oder man hat einfach kein Emmentaler-gerieben:) Ich finde es toll, dass du dich dennoch in den Zug gesetzt hast. Man erreicht und schafft so viel im Leben, was man sich nie zugetraut hätte… Bevor du es bereust, dass du irgendetwas nicht gemacht hast, in der Zeit in China. setzt dich oft in den Zug:) Ich finde es übrigens toll, dass du dich auf dem Campus wohl fühlst. Da wir im Institut sind, fehlt mir der Campus, die vielen Studenten und dieses Tra la la eben…
    Meine Bilder im Kopf von Chile haben sich hier auch rasch verändert. Ich glaube das gehört dazu. Entdecke China für dich. Lg und Bussi aus Santiago

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