Wo die wilden Hunde wohnen

Zum ersten Mal, seit ich in Delhi bin, habe ich an Sigmund Freud gedacht. Ein paar Leser werden sich jetzt vielleicht wundern: Und? Ich hab in meinem Leben noch nie freiwillig an Sigmund Freud gedacht! Andere, die wissen, dass ich eine gewisse Affinität zu ihm und seinen Thesen besitze (ich habe immer noch vor, seine Theorie über den Beginn der Kultur praktisch zu widerlegen!), haben jetzt Grund zum Schmunzeln.

Es ist nämlich Folgendes passiert: Seit den letzten beiden Wochen hat sich bei mir, jedenfalls auf dem Campus, ganz allmählich ein Gefühl der Vertrautheit eingestellt. Ich kenne langsam die meisten Wege zu meinen Schools, ich weiß, in welcher Kantine es das beste Naan-Brot gibt, ich weiß, wann die Buchläden hinter der Universität aufmachen. Ich kenne langsam meinen Stundenplan und finde auch immer zügiger die Räume und trotzdem… trotzdem überfällt mich von Zeit zu Zeit ein gewisses Gefühl des Unbehagens. Als würde ich darauf warten, dass von links ein exzentrisch gekleideter Mit-30er in mein Blickfeld springt, seinen Zylinder lüpft und brüllt: „Ende des ersten Aktes“ und mit diesen Worten das Bild des Campus’ vor meinen Augen davonzieht.

Heute früh wurde ich in der Dämmerung vom exzessiven Gebell einiger der wilden Campus-Hunde aufgeweckt.

Ich starre eine Zeit lang auf den Schimmelfleck an der Decke über meiner Pritsche, von dem ich inzwischen beschlossen habe, dass er, jedenfalls im Dämmerlicht, Ähnlichkeiten mit einem Portrait von Winston Churchill besitzt, und lausche dem Heulen und Knurren – und genau da fällt es mir auf: Dieses unbehagliche Gefühl bekomme ich vor allem dann, wenn ich auf dem Campus über die Hunde stolpere, die sich überall tummeln! Und das Stolpern meine ich nicht metaphorisch und „überall“ ist keine stilistische Übertreibung. Sie sind tatsächlich einfach überall. Und obwohl man meinen könnte, dass ich diesen Umstand inzwischen einfach als Faktum, als Teil meiner neuen Umgebung angenommen hätte, kann ich es nicht. Es ist wie ein permanenter Juckreiz, als hätte ich irgendwo einen Splitter unter den Nägeln, den ich nicht finden.

Ich liege also in meinem Bett, höre auf die Hunde und denke mir: Warum zum Teufel irritieren sie mich so?

Vielleicht, weil ich so oft die Warnung gehört habe: Lass dich von keinem Hund beißen. Die haben da unten alle Tollwut! Aber ich habe auch Sätze gehört, wie: Fahr ja nicht nach Indien! Die da unten sind doch alle Vergewaltiger! Und trotzdem blinkt in meinem Kopf keine imaginäre rote Warnleuchte auf, sobald ich einen indischen Mann sehe.

Dann denke ich, dass es vielleicht daran liegt, dass mir eine Freundin einmal gesagt hat: „Tabea, irgendwie bist du ein komischer Mensch. Aber du wärst ‘ne gute Katze geworden!“ Und nachdem Hunde und Katzen sich bekanntlich ja nicht mögen… Aber auch den Gedanken verwerfe ich.

Ich liege eine ganze Weile und denke immer wieder an diese Hunde, versuche vergeblich zu fassen, was genau mich an ihnen so stört. Es sind doch einfach nur Hunde!

Und trotzdem, irgendetwas an ihnen stimmt für mich einfach nicht. Obwohl sie sich oberflächlich wie Hunde benehmen: Sie pinkeln an die Bäume und Steine, sie wedeln mit dem Schwanz, sie knurren, sie bellen…

In diesem Augenblick setze ich mich mit einem Ruck auf meiner schmalen Pritsche auf und rufe: „Sigmund!“ – sehr zum Schrecken meiner Mitbewohnerinnen, die davor von den Hundegeräuschen ganz unbeeindruckt weitergeschlafen haben. Aber in meinem Kopf tönt auf einmal ein glockenhelles „Pling!“ weil mir einfällt, dass die Hunde auf dem Campus NICHT HECHELN!!!!! Kein einziger! Es ist unglaublich heiß und schwül, sie liegen überall draußen herum, aber sie hecheln nicht! Sie sind absolut ruhig und haben die Mäuler geschlossen, sodass nicht einmal lässig ihre Zunge rechts oder links über die Lefzen hängt. Aber welches Geräusch wäre denn typischer für einen Hund an heißen Tagen, wenn nicht ein herzhaftes, permanentes „heh heh heh heh“, das ihn überall hin begleitet?

Und als verkorkste Kulturwissenschaftlerin, zu der ich mich anscheinend rettungslos entwickle, denke ich sofort: Freud, Freud, Freud! Freud und sein Aufsatz zum Unheimlichen, worin er beschreibt, was in Menschen das Gefühl des Unheimlichen, ein Gefühl der unbestimmten Furcht, hervorrufen kann – nämlich genau die Erfahrung dessen, das vertraut erscheint, aber sich eben irgendwie doch minimal vom Bekannten unterscheidet. Wie eine Straße, die geradeaus verläuft, aber denjenigen, der auf ihr läuft, immer wieder an den gleichen Ort zurückführt. Oder die Gestalt des Doppelgängers, der scheinbar haargenau mit dem Original übereinstimmt – aber sich genau um dieses eine Haar vom Original unterscheidet. Und das Bild „Hund“ in meinem Kopf und die Hunde hier auf dem Campus stimmen einfach darin nicht überein, dass der Hund in meinem Kopf hechelt. Und die Hunde hier tun das nicht.

Mit diesem Gedanken bin ich heute Morgen gleich aus dem Hostel gestürmt und über den Campus gelaufen, um mir die Hunde nochmal genau anzugucken – um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, habe ich diese kleine Expedition bis in die Mittagshitze andauern lassen. Dafür musste auch der eine oder andere Kurs ausfallen, aber trotzdem; das war es mir absolut wert! Denn die einzige, die unter der tropischen Monsun-Hitze gehechelt hat, war ich. Und ich war noch nie so glücklich darüber! Und was für ein herrliches Gefühl, auf dem Rückweg zum Hostel, in dem ich meinen dringend nötigen „bucket“ nehmen wollte, mental auf jeden Hund zu zeigen und zu denken: „DU hechelst nicht. DU hechelst nicht. Und DU hechelst nicht!“ Ok, ich gebe es zu. Ich habe das nicht nur mental gemacht…

Und auf einmal war die Angst vor dem exzentrischen Mit-30er schon viel kleiner und der Splitter gezogen. Für die nächsten zwei Stunden war ich Freud ziemlich dankbar. Eigentlich mehr als das, ich war schon drauf und dran, mir zu schwören, mein Erstgeborenes nach ihm zu benennen – egal ob Junge oder Mädchen!

Nach den zwei Stunden allerdings bin ich leider einem echten Mit-30er über den Weg gelaufen, einem Dozenten für Physik, ausgenommen groß und breitschultrig für einen Inder, mit riesigen schwarzen Augen und ohne die nervige Angewohnheit, mich nach 10 Minuten Gespräch „babe“ oder „little dove“ zu nennen. Gerade aber, als er mich auf einen Chai einladen wollte, machte es wieder glockenhell „Pling!“in meinem Kopf und eine leise Stimme rief: „Freud! Ödipus! Freud! Ödipus!“ Ich lief noch röter an, als ich hier ohnehin die ganze Zeit schon bin, habe irgendwas davon gemurmelt, dass ich jetzt Seminar hätte, und bin davon gestolpert… Ohne einen gratis Chai abzustauben! Manchmal ist Freud auch echt unmöglich. Und Sigmund ist ein bescheuerter Vorname.

Anstatt mich also weiter der Antwort auf die Frage anzunähern (oder eher anzutrinken?), wo es denn den besten Chai auf dem Campus gibt, stellt sich mir eine ganz andere:

Welche Diagnose wäre eigentlich dabei herausgekommen, wenn Sigmund Freud selbst bei Sigmund Freud auf der Couch gelegen hätte?

3 thoughts on “Wo die wilden Hunde wohnen

  1. Erik hat soeben deinen Eltern und Eva und mir deinen Essay vorgelesen:
    Ringsum Bewunderung deiner Ausführung!!
    Herzliche Grüße,
    W.W. am See

  2. Tabea, du bringst mich mit deinen Texten immer wieder zum Lachen und Staunen! Geh weiter so aufmerksam durch deine neue Heimat und lass dich von seltsamen Tierverhalten nicht unterkriegen 😉 In Vorfreude auf den nächsten wunderbaren Beitrag, Ella

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