“Cause I’m a rich bitch” Ein wenig harte Kost

Vor meiner Abreise war mir klar, dass das Lied, was mich durch mein Auslandssemester begleiten würde, natürlich ein Bollywood-Song sein müsste – und da hab ich mich entschieden für „San Sanana“, eine wundervoll, scheinbar sinnlose Aneinanderreihung von ähnlichen Silben, die auf Hindi aber tatsächlich einen halbwegs sinnvollen Text ergeben; das Lied einer jungen Frau, die frei wie der Wind durch die Welt streifen möchte.

Seit ein paar Tagen habe ich aber immer öfter den Impuls, das Lied zu ändern und es ein wenig den realistischen Umständen anzupassen, die mich momentan umgeben – ich spreche von dem Lied der Gruppe„Die Antwoord“, nämlich „Rich Bitch“ … und einer gehörigen Portion Sarkasmus dahinter.

Tatsächlich fällt mir auf, wie sehr ich vor allem in meinem Uni-Alltag gerade über mentale Schranken und Mauern stolpern muss, die ich dort, jedenfalls in ihrer Intensität, nicht vermutet hätte… Und von denen ich gar nicht wirklich sagen kann, ob ich sie aufstelle oder sie mir von außen vor die Füße gepflanzt werden.
Aber vielleicht kurz von vorne; Mareike hat mich nämlich in einer Nachricht – natürlich ausgesprochen lieb durch die Blume – gefragt: Tabea, was treibst du da unten eigentlich?

Naja, also bisher habe ich seit zwei Wochen reguläre Seminare, wobei ich mich angesichts des Pensums auf drei beschränkt habe: Ein Seminar befasst sich mit „India in the German Literature and Philosophy“ am Centre for German Studies. Dann belege ich einen Kurs namens „Sociology of Minorities and Ethnic Groups“ im Centre of Social Systems und dann noch „Cultural Studies and the Performative“ in der School of Arts and Aesthetics. Klar, ich habe mich natürlich nicht für eine School entscheiden können. Sobald man aber verstanden hat wie die „Add-and-Drop“-Formulare funktionieren, ist das eigentlich auch kein Problem. Gut, ich habe also drei Kurse, die mehrmals die Woche stattfinden und in welchen mich noch diverse Paper, Essays und Mid, sowie End Term Exams erwarten werden.

Der Kurs über „The Performative“ ist bisher großartig interessant, aber auch unheimlich anstrengend – der Dozent hält zweimal wöchentlich einen zweistündigen Vortrag, ohne Notizen, aber mit unheimlich vielen Verweisen versetzt, über … ja, eigentlich über das Leben selbst und die Wahrnehmungsmöglichkeiten desselben in den Schranken der Sprache. Womöglich kam hiervon der Anstoß meiner Überlegungen. Wir sprachen nämlich über „constative utterances“, die sich auf einen Gegenstand beziehen, aber diesen soweit nicht verändern, wie etwa „Das ist ein Stuhl.“ Dem Stuhl ist es dabei egal, ob ich ihn als solchen bezeichne. Er könnte auch eine Kaffeekanne sein. Der einzige, dem dann die Unstimmigkeit im Sprachsystem auffallen würde, wäre der Sprecher. Jedoch unterscheidet J.L. Austin in seinem Werk „How to do things with words“ eine weitere Form der Aussage, die „performative utterance“, welche Realität erschafft, indem sie selbst entsteht. Als Beispiel verwendet mein Dozent die Ehe. Indem Braut und Bräutigam mit „Ja, ich will“ eine Aussage treffen, erschaffen sie eine Ehe, ihre individuelle Ehe, die vor dem Zeitpunkt der Aussagen nicht existiert hat und die sich auch als solche nicht greifbar manifestiert. Sie muss deswegen durch Dokumente festgehalten werden. Die Realität der Ehe entsteht aber eben nicht durch dieses Dokument. Sie entsteht allein durch die „performative utterance“.
Status quo: In meinem Kopf schwirrt es also von Aussagen, ihren Bedeutungen, ihrem Einfluss auf die Realität, ihren Machtpotentialen.

In meinem nächsten Kurs über die Soziologie von Minderheiten bezieht sich mein Dozent auf die Nachwirkungen des Kolonialismus und den daraus resultierenden Abhängigkeitsstrukturen. Er zeigt auf mich, einzige Europäerin im Kurs, und fragt: „You know that your countries are only that rich because they’ve exploited the rest of the world?“ Eine Antwort wird nicht erwartet.

Bum, erster Stempel – European Rich Bitch.

Es stellt sich bei mir ein unbehagliches Gefühl ein. In einem der nächsten Vorträge bringt er ein Beispiel über Länder-Teilungen, ähnlich derjenigen von Indien und Pakistan. Er zeigt wiederum auf mich. „You know that your country has been devided? You’ve ever heard about the ‘Berlin Wall’?“ Ich muss ihn kurz etwas ungläubig angestarrt haben, denn er legt nach: „That is a really important chapter of your history, girl! Berlin Wall!“ und alle im Raum nicken zustimmend. Tatsächlich ist „Berlin Wall“ neben „Oktoberfest“ und „Mein Kampf“ einer der häufigsten Begriffe, die mir entgegengegrinst werden, sobald ich erzähle, dass ich aus Deutschland komme. Mir wäre also nie in den Sinn gekommen, jemand könnte annehmen, dass ich sie nicht kenne.

Bum! Zweiter Stempel, Stupid German Rich Bitch.

Aber es kommt für mich noch härter. In der darauffolgenden Sitzung bezieht er sich auf Walter Benjamin. „Benjamin, a Jewish philosopher. A Jew!“ Es folgt der bereits bekannte Fingerzeig auf mich. „You know that he killed himself? Because he had to flee from your country!“

Bum! Dritter Stempel. Stupid German NAZI Rich Bitch.

Und wieder kein Raum für eine Erwiderung. Ich hätte ihn gerne gefragt, von welchem Land er denn im Augenblick spricht. Dass ich aus der Bundesrepublik Deutschland komme und nicht aus dem Third Reich. Aber diese Aussage klebt an mir wie rote Farbe. Und ich frage mich: Ist sie wahr? Ist das auch eine „performative utterance“? Verschmelzen Nazi-Deutschland und „my country“ zu ein und demselben Land, weil jemand das behauptet? Oder muss ich andersherum fragen: Ist es von mir wirklich legitim, zwischen beidem zu unterscheiden? Ich hätte gerne noch gesagt, dass ich mit meinem zarten Alter von 22 Jahren nicht einmal die DDR erlebt habe. Dass sogar die Teilung Deutschlands für mich ein Stück Geschichte ist, von dem mir erst jemand erzählen musste, dass aber in meiner Welt, im Sinne einer Welt der persönlich erlebten Erfahrungen, keine physische geschlossene Berliner Mauer mehr gestanden hat. Dass darin auch kein physischer Adolf Hitler mehr herumgelaufen ist.

Das soll nicht bedeuten, dass ich mich nicht intensiv mit beiden Themen auseinandergesetzt hätte. Dass ich mir nicht schon oft die Frage gestellt hätte, welche Verantwortung mit einer solchen nationalen Geschichte einhergeht. Ich weiß auch, dass ich meine Nationalität nicht ablegen kann. Aber welches Verhältnis steht zwischen dem, was ich denke und dem, was von außen an mich herangetragen wird? Kann ich ein Stuhl bleiben, selbst wenn jemand kommt und sagt: „Walter Benjamin hat sich umgebracht, weil er aus DEINEM Land fliehen musste!“? Mein Land. Als wäre an sämtlichen Grenzschildern eine Plakette angebracht: „Dieses Land ist Eigentum von Frau Widmann.

A spectre is haunting my thoughts…

Und auch die“ EUROPEAN rich bitch“ lässt sich nicht so leicht abschütteln. Da der Kurs über Indien in deutscher Literatur im German Center gehalten wird, ist also auch die Kurssprache deutsch, sind die Texte auf deutsch geschrieben. Zur Einführung Edward Said und Anil Bhatti – komplex, vielschichtig und auch für mich große Portionen. Ich kann mir nur vorstellen, wie schwierig die inhaltliche Auseinandersetzung für meine Kommilitonen ist, die auch noch den Nachteil der Sprachbarriere überwinden müssen und deswegen bei der Dozentin um zwei Tutoriums-Stunden gebeten haben. Aus dem Impuls heraus, mich zu engagieren und die anderen zu unterstützen, habe ich nach der Stunde vorgeschlagen, dass ich ja das Tutorium übernehmen könnte – die Dozentin war begeistert und fand meinen Vorschlag unheimlich nett. Jetzt erst fällt mir aber auf, welche Dimension sich damit wiederum auftut: Eine Weiße, die sich vorne hinstellt und den anderen erklärt, wie sie die Welt zu verstehen haben. Nein, eigentlich schlimmer, die erklärt, wie Texte zu verstehen sind, die sich von der Passivität, von außen beschrieben zu werden, eigentlich befreien wollten! Die eine Gegenstimme formen wollten, einen Kontrast zum europäischen Monolog, den ich mit dem Tutorium doch eigentlich erneut reproduziere?!?!?!?!?!?!?!

Das alles kreist im Augenblick in meine Kopf und macht es ganz schwierig, in der alltäglichen Welt zu bleiben. Wer weiß, welchen neuen Diskurs, welche alten ungerechten Machtverhältnise ich möglicherweise durch meine nächste Handlung unbewusst oder bewusst erneut aufgreife? Denn ihnen zu entkommen, erscheint im Augenblick unmöglich.
Ich glaube, es ist besser, PC und Kopf für eine Weile auszuschalten und durch den Regen zu laufen.

Und während ich das schreibe, habe ich eine riesige Ameise, die über meinen Schreibtisch gekrabbelt ist und mich dabei fürchterlich erschreckt hat, erschlagen. Mit dem ersten Gegenstand, den ich mir greifen konnte.

Es ist die Autobiographie von Mahatma Gandhi.

Die Ironie des Lebens ist manchmal einfach unerträglich.

2 thoughts on ““Cause I’m a rich bitch” Ein wenig harte Kost

  1. Liebe Tabea,
    das ist ja hochintellektuelle Kost. Find ich spannend, auch wenn Du Dich selbst vielleicht sehr betroffen fühlst. Was prägt das Sein? – Das Bewusstsein? – Die Umwelt, die Geschichte? – Natürlich machen wir Menschen die Deutung von Erfahrungen. Wir leben vorwärts – deuten aber rückwärts. Dieses Ineinander und Zueinander von bereits gemachtem zu noch Gestaltendem ist vielleicht auch eine Aufgabe dieser Begegnung in Indien. Deutsche, europ.Geschichte wird ganz anders wahrgenommen und vor einem anderen Horizont gelesen. Du hast Dich da hineingewagt. Ich bin stolz auf Dich. Du wirst Teil dieser Hermeneutik, Du mit Deiner Person wirst vorne stehen(Tutor) und es in der Hand haben, wie Du interpretierst und interagierst. Finden die Teiln wieder den Kolonialstil oder finden sie einen partnerschaftlichen, öffnenden Stil vor. Wie sind die “discloser situations”? – Lass Dir dieses Interpretament “pars pro toto” zu sein, nicht einfach über den Kopf stülpen, sondern versuche DU selber zu sein und zu bleiben.
    Neben all diesen intellektuellen aufgaben nimm Indien weiterhin einfach an – es nimmt auch Dich mit in diesen Fluss von Werden und Verändern. Für die kommenden Tage alles Gute, Gesundheit, und Zuversicht, dass bis Mitte September sich der Monsun dann beruhigt hat. mit allen lieben Grüßen dein Papa – OM SHANTI

  2. Trotz allem sitze ich hier und muss lachen – aber auch vor Bewunderung. Deine Selbstironie gekoppelt mit so starker Beobachtungsgabe ist umwerfend!
    Die bist von den Dozenten schlagartig in das große philosophische Thema “Was ist Wirklichkeit? bzw. “was ist unser Konzept von Wirklichkeit?” geschmissen worden.
    Wir Europäer kennen nur das Dilemma, aber in Indien kennt man und spricht man von “Trilemma” (es ist so/ es ist nicht so/ es ist sowohl als auch/ es ist weder noch so).
    Na dann, viel Spaß beim Entdecken dieser Kultur. Es lohnt sich!

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