Heimwehleidig

Heute habe ich mit Erstaunen festgestellt, dass es tatsächlich schon mehr als zwei Wochen her ist, dass ich mit einem großen und schweren Rucksack vor meiner Brust und einem noch viel größeren und schwereren Rucksack auf meinem Rücken um sieben Uhr in der Früh aus dem Flughafen gestolpert kam… Gerade mal 16 Tage. Der Zeitraum erscheint mir einerseits um so vieles länger – jeden Tag häufen sich so unendlich viele neue Erfahrungen an, sodass ich kaum hinterherkomme, alles zu sehen, zu hören, zu versuchen zu verstehen, wahrzunehmen, einzuordnen… Und andererseits, was sind schon 16 Tage?

Nun, es sind anscheinend schon genug Tage, um an mir selbst ein Phänomen zu diagnostizieren, dass ich für mich als „heimwehleidig“ betitelt habe.

Es äußert sich wie folgt.

Es regnet. Klar, wir haben ja Monsun. Das habe ich auch gewusst, bevor ich abgeflogen bin. Aber dann ist die Bushaltestelle überschwemmt und in den Straßen steht das Wasser, braun und schlammig, und der Bus hält einfach nicht, sondern fährt vor meiner Nase vorbei.

Tabea denkt: Ach wäre ich doch nur in Deutschland, da passiert so etwas nicht. (Also das mit den Bussen vielleicht schon, aber der Rest nicht.)

Dann ist die Luft so feucht, dass meine Wäsche nicht trocknet. Viel schlimmer, sie fängt auch an, entsprechend zu riechen. Toll, denkt sich Tabea, als sie ihre müffelnden Unterhosen einsammelt, in Deutschland wäre mir das nicht passiert. Inzwischen habe ich leider auch feststellen müssen, dass meine Dokumente aus Deutschland in meinen Schubladen das Schimmeln angefangen haben.. Ich besitze jetzt ein Bachelorzeugnis mit „Sondernote“!

Auf dem Heimweg von der Bibliothek zu meinem Hostel werde ich von einem Rudel semi-wilder Hunde umzingelt und semi-neugierig angeknurrt. Auch da denkt sich Tabea: Wo zum Teufel ist der übergewichtige deutsche Rentner, der hinter den Hunden hinterher gehechelt kommt und ruft: „Keine Angst, die wollen nur spielen!“?

Wäre es mir in Deutschland passiert, beim Einsteigen in die Metro nachmittags um fünf auf einmal drei Hände auf meinem Hintern zu haben – keine davon meine? Vermutlich auch nicht.

Wahrscheinlich hätte ich in Deutschland auch keine zwei Mitbewohnerinnen, mit welchen ich mir ein ca 13 qm großes Zimmer teile, dessen Wände angeschimmelt und schief sind, dessen Badezimmertüre sich nicht richtig schließen lässt. Ich hätte, zumindest irgendwo im Gebäude, Zugang zu einer Küche mit einem Mini-Fach in einem Kühlschrank, ich müsste mein Wasser nicht mit Camping-Heizspiralen erhitzen und hätte eine Dusche anstatt eines Eimers.

Aber vor wem außer mir selbst sollte ich schlaumeierisch den Finger heben und sagen: Frau Widmann, Sie haben gewusst, dass das hier nicht ganz einfach wird. Selber Schuld.

Und das bin ich ja auch. Ich habe diese Entscheidung getroffen und stehe nach wie vor völlig hinter ihr.

Aber gewusst – und das merke ich jetzt immer mehr – gewusst habe ich es nicht. Denn was hier jeden Tag passiert, diese Entdeckung eines völlig neuen Lebens, ist etwas, was mir als etwas immer noch Unvorstellbares erscheint, etwas, was ich gar nicht hätte wissen KÖNNEN, ohne es nicht getan und erlebt zu haben. Es ist für mich etwas, was ich selbst jetzt nur in denjenigen Teilen in Sprache fassen kann, soweit meine bisherigen 16-tägigen Erfahrungen reichen. Alles will erst verarbeitet, neu eingeordnet und sortiert werden, in Denkkategorien, Empfindungen und Eindrücken, die ich bisher so nicht kannte, die ich mir irgendwie noch zusammen leimen muss… In etwa Niklas Luhmann à la Meister Eder!

Und dieses „Leimen“ ist gerade noch unheimlich anstrengend, weil ich es auf allen Ebenen tun muss. Jeder Augenblick hier, seien es neue Begegnungen, Bürokratie, Klima, Wohnen usw… all das will eine Form bekommen.

Klar, in Deutschland müsste ich das nicht. Die Zettelkästen dort kenne ich bestens. Und wie praktisch, so denke ich einfach manchmal,wenn ich unter grauem Himmel und strömendem Regen mit nassen Füßen und trotzdem aus alle Poren schwitzend über Schlaglöcher springe und dabei aufpassen soll, auf keine Schlange zu treten, wie praktisch wäre es jetzt, in Deutschland zu sein und sich in einen Alltag fallen zu lassen, den ich bestens kenne und „meistern“ kann.Und dann, genau dann, bin ich ein bisschen heimwehleidig und verliere den Mut, dieses große Abenteuer zu bewältigen. Es ist einfach sehr groß.

Aber anscheinend ist es jetzt einfach noch an der Zeit, mir neben meinen deutschen auch ein paar indische Zettelkästen zuzulegen, damit ich auch hier ein wenig mit dem gedanklichen Sortieren beginnen kann.

Eine Schublade nach der anderen.

Was für ein Glück, dass ich einen Vater hatte, der in liebevoller Geduld in seinem Keller Stunden über Stunden mit mir an Holzställen für meine Pferdepuppen gearbeitet hat. Und so werde ich es wohl einfach hier versuchen – denn alles, was sich reimt, ist gut. Und all das, was sich nicht reimt, kann es ganz genauso werden!

One thought on “Heimwehleidig

  1. Liebe Tabea, ich mag deine Berichte sehr! Irgendwie erinnert dein Bericht mich an meine Zeit beim Militaerdienst. Ich glaube, jede hat auf die Umgebung seine/ihre eigene Reaktion, die ein Spur bedeuten koennte, dass man sich an die Fremde anzupassen angefangen hat. Dieses Verfahren, das du als “Leimen” bezeichnest, stammt vielleicht aus der Koeperlichleit, damit es lieber vom Herzen akzeptiert wuerde, statt es bewusst zu bekaempfen. Ich sollte dir nicht zu viel sagen, denn du schon etwas erlebt hast, was ich sozusagen nie erlebt habe. Wenn du Zeit und Lust haettest und wenn es moeglich, kannst du dir diesen indischen Film “3 Idioten” schauen, der Spruch in dem du vielleicht moegen wirst! Mach’s gut! lieber Gruss aus Konstanz

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