Nach zehn Tagen San Francisco bin ich heute nach Berkeley umgezogen: Zeit für eine Rückschau.
Nun bin ich etwas mehr als eine Woche in der Bay Area unterwegs. Das ist sicher noch nicht lange, doch es reicht, um einen ersten Eindruck wiedergeben zu können. Mein erster Eindruck war das Tenderloin-Viertel, als ich nachts in San Francisco ankam. Es stinkt dort und wimmelt von den seltsamsten armen Gestalten, wie Drogen sie nur zeichnen können. Einheimische sagen: „Never go there, especially during the night!“, doch das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht, als ich mit meinem Koffer von der Bart-Station in Richtung Hostel aufbrach. Ich habe dann ein Taxi genommen. Gut investiertes Geld, wie mir bei einem späteren Spaziergang am Tag noch viel klarer wurde. Aber was macht der unbedarfte Neuling nicht alles falsch.
An meinem ersten Morgen plagte mich der Jetlag heftig, also ging ich zu Fuß los gen Financial, um die Müdigkeit zu überwinden. Und ich war erstaunt über die Ruhe, die diese Stadt auch Downtown zwischen all den Wolkenkratzern noch ausstrahlt; und über die Orientierung, die man hier unvermittelt hat – irgendwie kam mir alles seltsam vertraut vor. Hier die Transamerican Pyramid, dort die Oakland-Bay-Bridge, da drüben das Ferry Building, dazwischen Cable-Cars und ein ständiges auf und ab über die Hügel. Alles schon gesehen, diese „Straßen von San Francisco“, portraitiert in unzähligen Filmen, Dokumentationen und Serien. Doch anders als New York, das mir in real dann doch sehr anders vorkam, als in meiner Vorstellungswelt, war San Francisco ziemlich genau das Bild, das ich mir immer ausgemalt hatte. Das hatte ich bislang in kaum einer neuen Stadt erfahren.
Es ist ja so, dass man mit einem neuen Ort eine Art Beziehung aufbaut. Man möchte ankommen und sich die Stadt zu eigen machen. Ich steige daher immer zuerst auf einen Hügel, oder Turm und gucke runter auf das Neuland – das erweitert den Horizont auf ganz praktische Weise. Ich also rauf auf den Telegraph Hill, wie hundert andere Touristen mit mir. Und da stand ich nun und sah zum ersten Mal die Bay und Alcatraz mit Oakland und Berkeley in der Ferne; meine neue Heimat für das kommende halbe Jahr. Nach all dem Aufwand und dem Stress, den die Vorbereitungen gekostet hatten, der Aufregung im Endspurt und der zwölf Stunden Flug überkam mich jetzt erstmals das Gefühl, das ich die letzten Monate vermisst hatte. Ich war da. In San Francisco. Und ich war unendlich glücklich.
Die Golden Gate Bridge sah ich übrigens nicht, die war im Nebel. Der plötzliche Nebel und das Mikroklima in San Francisco sind berüchtigt. Eigentlich kann man nie sicher sein, wie man sich angesichts der Temperaturschwankungen und dem Wind richtig anziehen soll. Besser ist es, man hat zwei Jacken dabei und das meine ich ernst. California Sun ist eher wo anders. Als ich drei Tage später über die Golden Gate radelte, war ich wieder im weißen Nichts. Frierend mit zwei Pullovern und einer Jacke. Und einem Sonnenbrand, wie er in keinem Skiurlaub vorkommt. Wie gesagt, das Wetter ist „besonders“. Jedenfalls teilte ich diese Erfahrung mit etwa zehntausend anderen Touristen, die nach dem Motto unzähliger Fahrradläden „Bike the Bridge!“ einmal in ihrem Leben dieses weltberühmte Meisterwerk der Ingenieurskunst überqueren wollen. Drüben in Sausalito war es dann sommerlich warm und erstmals sah ich die roten Türme fast gänzlich ohne Nebel. Wieder mit hunderten Touristen, die sich am Vista Point um den perfekten Platz für ihr einzigartiges Foto fürs Familienalbum in Schlange stellten.
Der Anblick der Brücke ist wirklich atemberaubend, wie auch viele andere Orte in San Francisco nicht grundlos weltberühmt sind, doch ist er keine individuelle Erfahrung. Ob in Fisherman’s Wharf, auf den Treppen der Lombard Street, an den Victorian Houses um den Alamo Park, in den Cable Cars oder in den Straßen von Haight-Ashbury. Auf den Spuren von Janis Joplin und Co wollen viele wandeln. Sehr viele. Gerade an diesen bekannten Orten büßt San Francisco etwas von seinem Mythos ein, den es in den 1960er Jahren aufgebaut hat und der mit Handyvideos von rauchenden und Gitarre spielenden Alt-Hippies vor buntem VW-Bus gänzlich zum Klischee verkommt.
Dennoch steckt viel Wahrheit im Mythos über die Toleranz und die entspannte Atmosphäre dieser Stadt, dem so viele Menschen hier her gefolgt sind. Was hier geschah, vorgedacht von den Intellektuellen in der Bay Area und getragen von der Studierendenschaft in „Bezerkeley“, wie es die prüde Mehrheitsgesellschaft spöttisch und erschreckt nannte, manifestiert in verschiedenen Friedens- und Freiheitsbewegungen gegen Rassismus und für die Rechte von Minderheiten von den 1960er bis in die 1980er Jahre hier in Oakland, San Francisco und Berkeley und was sich in Musik und neunen Lebensformen dieser Ära ausgedrückt hat, ist bis heute spürbar.
San Francisco ist ein melting pot, wie die meisten amerikanischen Großstädte, aber es ist auch ein Ort, an dem ein mit Goldkettchen behängter Hip Hopper neben einem schwulen Paar und einer alten asiatischen Frau im grauen Regenmantel im Bus sitzt und alle gemeinsam Witze machen. Ein Ort, an dem eine Frau mit Kopftuch Hot Dogs serviert und ein Transgender Führungen für Kinder im Museum gibt. Ein Ort, an dem sich die Communities der Einwanderer aus Asien, Südamerika und Europa nicht nur auf ihre Viertel beschränken. In dem verschiedene Religionen und Homosexualität nicht nur präsent sind, sondern als Teil des Ganzen funktionieren. Man kann einwenden, dass das alles in anderen Metropolen auch vorzufinden ist. Doch hier scheint das Miteinander von Menschen unterschiedlichster Herkünfte und Lebensweisen ganz besonders von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet zu sein. Diversity ist das Aushängeschild dieser Stadt und man scheint stolz darauf zu sein.
Man sucht den Dialog miteinander. Außer in Südosteuropa habe ich bisher noch nirgendwo so viel Hilfsbereitschaft erfahren und so viele offene Gespräche mit völlig Fremden geführt. Auß erdem geschehen hier Dinge, die einem zu Hause eher selten passieren, da war ich mir mit meinen Hostel-Bekanntschaften aus Europa einig.
Foto: Mission Dolores Park, San Francisco
So wollte ich mit einer Italienerin und einem Niederländer ins Museum der Historical Society of the Chinese Community in Chinatown. Leider stellten wir erst vor Ort fest, dass die Ausstellung momentan wegen Umbaumaßnahmen geschlossen ist. Wie wir anschließend etwas enttäuscht und unentschlossen über unsere weitere Planung vor dem Eingang standen, kam eine Frau auf uns zu und entschuldigte die Umstände. Sie stellte sich als die Leiterin des Zentrums vor. Da sie gerade ihre Mittagspause begonnen hatte und sich über unser Interesse an Chinatown freute, gab sie uns einen kurzen Überblick über die Geschichte, die bedeutsamsten Orte und führte uns anschließend zwei Blocks herum. Anekdoten dieser Art habe ich in den letzten Tagen fast ein Dutzend angesammelt. Sie bestätigen mir wieder, dass alleine Reisen zwar zunächst ein Heraustreten aus der Komfortzone bedeutet, doch mit ein wenig Offenheit zu den unverhofftesten Erlebnissen und Bekanntschaften führen kann. Ich war schon öfter allein auf Reisen gewesen, doch hier funktioniert das besonders gut.
Eine Geschichte soll hier noch angefügt werden, denn sie ist besonders schön. Ich war vor drei Tagen am Union Square verabredet und wartete. Ein Mann trat auf mich zu und bat mich, ein Video mit seinem Handy zu machen. Ich sollte einfach direkt auf Play drücken und ihm nachgehen. Ich folgte ihm zu einer steinernen Herz-Skulptur an der Ecke des Parks, auf deren Sockel eine Frau saß und etwas verwirrt wartete. Sie sah den Mann fragend an, der offensichtlich ihr Freund war und hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte. Ich hatte diese Ahnung am aller wenigsten und filmte einfach. Der Mann kniete sich daraufhin auf den Boden und machte ihr einen Antrag. Sie hat ja gesagt.
Nach einigen Gesprächen mit Einheimischen und geleitet von meinem eigenen Eindruck habe ich mich die letzten Tage oft gefragt, was Toleranz eigentlich bedeutet. Eigentlich bedarf es nicht viel, um tolerant zu sein. Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit. Denn eigentlich geht es nicht darum, andere Auffassungen und Lebensweisen wirklich zu verstehen oder sie gar gutzuheißen oder mitzutragen. Eigentlich geht es nur darum zu akzeptieren. Denn alles, was keinen persönlichen Schaden bedeutet, im Leben eines Anderen jedoch Bedeutung hat, sollte kein Unwohlsein hervorrufen. Denn das führt letztlich nur zu sinnloser Feindseligkeit. Eigentlich bedeutet dieser Wille zur Toleranz für die eigene Person keinerlei Aufwand, kann jedoch für den Akzeptierten die Welt bedeuten.
Sicher, rechtlich betrachtet, geht es Minderheiten hier nicht besser als in Deutschland und gerade jüngst eingewanderte Mexikaner haben auch in San Francisco einen schweren Stand, doch das soziale Klima wirkt hier anders. Die Toleranz dieser Stadt ermöglicht ein freies und würdevolles Leben für die, die abseits der „Norm“ leben. Und das ist, wie es Harvey Milk, einer der großen Helden San Franciscos formuliert hat, das Recht auf ein Leben ohne die Angst.
Mein Favorit ist ja der unerwartete Heiratsantrag… Schön, dass es dir ganz allein so gut ergeht! 🙂
Der Vorteil von Alleinereisenden ist eben doch die eigenen Eindrücke besser zu reflektieren und viel offener mit der Stadt umzugehen 🙂 Mein Eindruck ist, dass unser Ethnologe sich in dieser toleranten und hilfsbereiten Gegend sich ganz wohl fühlt. Und Zeuge eines Antrags zu sein, ist natürlich ein besonderer Glücksmoment.